Preludes to a Revolution
hänssler CLASSIC 98.480
1 CD • 78min • 2004
11.04.2005
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Ob die amerikanische Pianistin Jenny Lin, wie die unverhältnismäßig lange Biographie des Booklets behauptet, tatsächlich eine „führende Stimme in der Musik der heutigen Zeit ist”, sei an dieser Stelle nicht weiter kommentiert. Es hätte durchaus genügt, sie mit der vorliegenden Aufnahme selbst ins Rennen zu schicken, die inhaltlich äußerst originell und interpretatorisch fast einwandfrei geraten ist.
Mut gehört schon dazu, mit einem solchen Mischprogramm auf den Plan zu treten, wo wir doch immer wieder vom CD-Handel hören dürfen, daß derlei Alben – mit Ausnahme natürlich der „Schönsten Opernchöre” u.dergl. – keine kommerziellen Erfolgsaussichten hätten. Aber vielleicht gehört diese Produktion ja zu den Ausnahmen. Die künstlerischen Aussagen sind jedenfalls denkbar günstig, denn im Gegensatz zu dem üblichen „Schaut her, ich kann’s”-Recital von Haydn bis Hindemith herrscht hier eine klare, einleuchtende Dramaturgie. 41 Préludes von zehn russischen Komponisten aus den Jahren 1905 bis 1922, vom ersten niedergeknüppelten Aufstand gegen die Zarenherrschaft bis zur Gründung des Sowjetstaates, verbinden sich zu einem äußerst konsequenten Ganzen, das desto erstaunlicher ausfällt, als sich hier eine Kollektion wahrhaft gegensätzlicher Charaktere in herzlicher Einigkeit präsentiert: Vom vermeintlich antiquierten Anatol Liadov bis zu den späteren Avantgardisten Iwan Wischnegradsky, Nikolai Roslavets und Arthur Lourié, von dem „verrückten”, tragisch früh ums Leben gekommenen Alexei Stanchinsky bis zu Reinhold Glière, einem der nachmals berühmtesten Realisten des Sozialismus gibt es hier eine trotz aller Individualität spürbare Gemeinsamkeit der Diktion, die sich in jener explosiven Phase eindeutig an der historisch fernen, künstlerisch aber ungemein aktuellen Persönlichkeit Frédéric Chopins orientiert.
Einen einzigen Kompromiß muß Jenny Lin eingehen, damit ihr Konzept aufgeht, und dieser Kompromiß betrifft natürlich, wie könnte es anders sein, die Vier Préludes op. 74 von Alexander Skrjabin. Seinem Opus ultimum fehlt hier, was die Musik des selbsternannten Messias aus ihrem historischen und sprachlichen Umfeld stets heraushebt: die mystische, innere Glut, dieses unbeschreibliche ekstatische Aufschreien, die grellen Funken und düsteren Flammen des imaginären Farbenklaviers. Daß es sich dabei um einen vorsätzlichen Verzicht zum Zwecke der Angleichung handelt, ergibt sich aus den jeweils vier Préludes von Anatoli Alexandrow (1915/16) und Samuel Feinberg (1918/19), die so leidenschaftlich scriabinesk gespielt werden wie man sich’s nur wünschen kann. Für einen Augenblick will sich da das Wort von der Geschichtsklitterung aufdrängen, doch selbst dann kann man nur die Sorgfalt und Differenzierung der pianistischen Darstellung bewundern.
Diese Sorgfalt hätte der textlichen Redaktion wohlgetan. Ungeachtet der neuen Trennungsidiotien (Atmos=phäre tut immer noch weh!) schreibt man Débussy auch heute noch ohne Akzent und Rachmaninov hinten nicht mit „V“; von Alexei Stanchinskys insgesamt sieben wunderbar gesanglichen Préludes steht eines in der lydischen, nicht in der „lyrischen” Tonart; und Reinhold Glière hat sage und schreibe fünfzig Jahre länger gelebt als das die Inlaycard behauptet. Das mag eine Addition von Kleinigkeiten sein, ist aber vor dem Hintergrund der künstlerischen Leistung und angesichts der Tatsache, daß wir es nicht mit einem für Ramschware bekannten Label zu tun haben, der berühmte Weh- und Wermutstropfen in einer sonst so schönen Produktion.
Rasmus van Rijn [11.04.2005]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Anatol Ljadow | ||
1 | Drei Stücke op. 57 | |
Boris Pasternak | ||
2 | Prelude (1906) | |
Sergei Eduardovich Bortkiewicz | ||
3 | 6 Preludes op. 13 | |
Alexey Stanchinsky | ||
4 | 5 Preludes (1907) | |
5 | Prelude (1908) | |
6 | Prelude en mode lydique (1908) | |
7 | 2 Preludes (1909) | |
8 | Prelude (1911/1912) | |
Arthur Vincent Lourié | ||
9 | 5 Preludes fragiles op. 1 | |
Anatoli Alexandrov | ||
10 | 4 Preludes op. 10 (1915/1916) | |
Alexander Scriabin | ||
11 | 5 Preludes op. 74 | |
Nikolai Obouhov | ||
12 | 7 Preludes (Prayers, 1914/1915) | |
Ivan Wyschnegradski | ||
13 | 2 Preludes op. 2 (1916) | |
Samuil Evgenievitch Feinberg | ||
14 | 4 Preludes op. 8 | |
Nikolai Roslavets | ||
15 | Preludes (1919/1922) |
Interpreten der Einspielung
- Jenny Lin (Klavier)