Beethoven
The Sonatas for Piano and Violin
Telos Music TLS 248
4 CD • 3h 39min • 2020
25.03.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Beethovens zehn Violinsonaten setzen in ihrer Entstehungszeit nicht weniger neue Maßstäbe als seine Klaviersonaten oder Streichquartette. Abgesehen von der Betitelung als „Sonaten für Klavier und Violine“ und nicht umgekehrt, was jedoch zeittypisch ebenfalls bei Mozart zu finden ist, wird bei Beethoven aber in der Tat eine in vielerlei Hinsicht neue Art des kammermusikalischen Duettierens erprobt, die aufregend konsequent dialektisch abläuft. Dies bezieht sich dann eben nicht nur auf das Verhältnis etwa zwischen den ersten und zweiten Themen der Kopfsätze, sondern auf die musizierenden Protagonisten und deren Umgang mit dem Vorgang des Musizierens selbst. Der Geiger Ingolf Turban hat lange gezögert, eine Gesamtaufnahme dieses herausfordernden Werkzyklus in Angriff zu nehmen, und nun endlich mit Marlo Thinnes offensichtlich einen kongenial agierenden Partner auf Augenhöhe gefunden. Die im Jubiläumsjahr entstandenen Einspielungen sind von atemberaubender Kohärenz.
Beethovens Vortragsangaben beim Wort genommen
Wie die beiden Interpreten zuletzt in mehreren Interviews betont haben, war der Ausgangspunkt für sie, Beethovens Partituren möglichst in allen Details ernst zu nehmen. Gerade in Hinblick auf Beethovens teils extreme Dynamik, seine unerbittlichen Sforzato-Orgien (op. 23!), und ganz allgemein die Phrasierung betreffend, erscheint diese Neuaufnahme in ihrer Konsequenz doch überraschend – im positiven Sinne. Selten wurde der Nerv so präzise getroffen, war das Vertrauen in die Energie Beethovens musikalischer Prozesse so groß, dass man sich erlaubt hat, fast gänzlich auf quasi eigene Zutaten – agogischer und klanglicher Art – zu verzichten. Tatsächlich kommt dabei keineswegs eine Musik heraus, die auf ihre „bare bones“ reduziert würde; im Gegenteil: Hier wird Beethovens absoluter Gestaltungswille mit einer hinreißenden Eindringlichkeit ans Tageslicht gebracht, die den Hörer eigentlich unentwegt nur staunen lässt. Das wirkt dann in den drei Sonaten des Opus 12 teilweise fast komödiantisch – was in Mozarts reiner Instrumentalmusik auch immer vom Theater her gedacht ist, findet sich zumindest beim jüngeren Beethoven kaum, wird hier aber umso deutlicher. Und wenn in der Frühlingssonate (op. 24) sich einer der genialsten melodischen Einfälle des Komponisten eben nicht zum reinen Idyll, und die Durchführung zur echten Bedrohung entwickelt, dann liegt man genau richtig.
Präzision und Virtuosität – ohne aufzutragen
Ingolf Turban gelingt es, mit sehr sparsamem, gleichzeitig schönem Vibrato und natürlicher Artikulation die Musik immer sprechen zu lassen. Marlo Thinnes erweist sich als Glücksfall: Stets hochpräzise im bei allen Sonaten oft heiklen Zusammenspiel – herrlich etwa die verrückt wirkenden Verschiebungen im Scherzo von op. 24 – und sich in der Dynamik ständig in seltener Einmütigkeit anpassend, ist sein Klang nicht ganz so farbig (vielleicht liegt’s mit am verwendeten Kawai-Flügel?) wie bei Martin Helmchen in seiner jüngsten Einspielung der ersten vier Sonaten mit Frank Peter Zimmermann. Dabei sind nicht nur die ganz nach dem Geschmack des Rezensenten goldrichtig gewählten Tempi annähernd identisch – Helmchen/Zimmermann sind meist sogar eine winzige Spur schneller, obwohl Thinnes/Turban noch mehr Spannung aufbauen können: Insgesamt sind sich beide Lesarten erstaunlich nahe. Thinnes‘ Verdienst ist eine gewisse Unerbittlichkeit; dabei bleibt sein makelloses Spiel trotzdem elegant, ohne vordergründig Virtuosität zur Schau stellen zu wollen, wie man sie stellenweise bei Argerich/Kremer antrifft. Leider konterkariert die Aufnahmetechnik dieses an sich mustergültige Miteinander ein wenig: Die Violine ist in den Sonaten Nr. 1-6 ständig zu hoch ausgesteuert – gerade zu Beginn des 1. und 2. Satzes von op. 24 hört man deutlich, dass hier manipuliert wurde; der Flügel wirkt nicht nur zu leise, sondern auch, als wäre er etliche Meter weiter hinten platziert: schade! Ab Sonate Nr. 7 wird dies zum Glück besser.
Phänomenale »Kreutzer«-Sonate
Dies ändert aber nichts daran, dass Thinnes/Turban über vier CDs glaubhaft echtes Beethoven-Feeling aufkommen lassen – und beim berühmtesten Stück, dem es lange ähnlich erging wie der Hammerklaviersonate (sie wurde anfangs wenig gespielt), legen sie dann sogar eine Referenz-Einspielung hin. Die Kreutzer-Sonate op. 47 wird hier zum ganz großen Drama: gigantisch, kompromisslos, jede Tradition hinter sich lassend. Man fühlt sich erst wie im falschen Film – bis schnell klar ist, dass es doch ein Moll-Stück ist. Dann stockt dem Hörer nur noch der Atem auf dieser hochemotionalen Achterbahn: Flüchten zwecklos! Jeder spürt da die zeitliche Nähe und das Visionäre der Appassionata, wohl auch bereits der fünften Symphonie: Was für ein Wahnsinns-Stück, wenn es so bravourös präsentiert wird. Und die Abgeklärtheit von op. 96 – noch nur ein Vorgeschmack von Beethovens eigentlichem Spätwerk – vermitteln die beiden Künstler gleichermaßen überzeugend. Das Booklet gibt zudem ihren Gedanken zu diesen Stücken einigen Raum: eine rundum empfehlenswerte, ganz außergewöhnliche Gesamteinspielung von entwaffnender Klarheit.
Vergleichsaufnahmen: Gidon Kremer, Martha Argerich (DG 447 058-2, 1984-1994); [Sonaten Nr. 1-4]: Frank Peter Zimmermann, Martin Helmchen (BIS-2517, 2019).
Martin Blaumeiser [25.03.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Ludwig van Beethoven | ||
1 | Sonate Nr. 1 D-Dur op. 12 Nr. 1 für Violine und Klavier | 00:19:57 |
4 | Sonate Nr. 2 A-Dur op. 12 Nr. 2 für Violine und Klavier | 00:16:03 |
7 | Sonate Nr. 3 Es-Dur op. 12 Nr. 3 für Violine und Klavier | 00:17:29 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sonate Nr. 4 a-Moll op. 23 für Violine und Klavier | 00:19:05 |
4 | Sonate Nr. 5 F-Dur op. 24 für Violine und Klavier (Frühlingssonate) | 00:22:44 |
8 | Sonate Nr. 6 A-Dur op. 30 Nr. 1 für Violine und Klavier | 00:20:30 |
CD/SACD 3 | ||
1 | Sonate Nr. 7 c-Moll op. 30 Nr. 2 für Violine und Klavier | 00:24:19 |
5 | Sonate Nr. 8 G-Dur op. 30 Nr. 3 für Violine und Klavier | 00:17:16 |
CD/SACD 4 | ||
1 | Sonate Nr. 9 A-Dur op. 47 für Violine und Klavier (Kreutzer-Sonate) | 00:37:10 |
4 | Sonate Nr. 10 G-Dur op. 96 für Violine und Klavier | 00:24:26 |
Interpreten der Einspielung
- Ingolf Turban (Violine)
- Marlo Thinnes (Klavier)