Thalberg
l'art du chant
Paul Wee
BIS 2515
2 CD/SACD stereo/surround • 2h 19min • 2020
10.12.2020
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Da wäre ich gerne dabei gewesen: am 31. März 1837 fand im Pariser Salon der Gräfin Cristina Trivulzio di Belgiojoso das legendäre „Duell“ der beiden Klavier-Koryphäen Franz Liszt und Sigismond Thalberg statt, die sich einander nicht grün waren. Erst wenige Wochen zuvor hatte Liszt in der „Revue Musicale‟ Kompositionen des Konkurrenten als „hohl, prätentiös, ideenlos, mittelmäßig, langweilig und monoton“ bezeichnet. Wie dieses Duell ausging, wissen wir nicht, die Gastgeberin entschied salomonisch: „Thalberg ist der erste Pianist der Welt, aber Liszt ist der einzige“. Über das Duell der Komponisten dagegen hat die Nachwelt ein eindeutiges Urteil gefällt. Thalberg war, anders als auf den Tasten, auf diesem Terrain kein Löwe und seine Werke sind schon bald nach seinem Tod mehr und mehr aus den Konzertsälen verschwunden.
Absage an das Virtuosentum
Mit den vier Alben „L’art du chant appliqué au piano“ (die Gesangskunst aufs Klavier übertragen), die zwischen 1853 und 1863 entstanden, erteilte Thalberg dem reinen Virtuosentum eine Absage und versuchte, nach den Worten seines Verlegers „an die wahre Mission des Einfachen und Schönen zu erinnern“. Dabei war er sich darüber im Klaren, dass das Klavier als Schlaginstrument anders als die Streich- und Blasinstrumente nicht per se zum Singen gebracht werden konnte. Die pianistische Illusionskunst lag also in der geschickten Nachahmung des menschlichen Atems.
„L’art du chant“ ist nicht zu vergleichen mit den zahlreichen Paraphrasen, Fantasien und Capricen zu Opernthemen, wie sie Liszt und auch Thalberg selbst geschrieben haben und die ihre Vorlagen nur als Ausgangsmaterial und Inspirationsquelle für eigene Ideen benutzten. Es handelt sich um reine Transkriptionen von Arien, Liedern und Chorälen, in denen das Klavier zugleich Solostimme und Orchester darstellt. Die kompositorische Eigenleistung bleibt in den meisten Fällen bescheiden. Bei den Liedern Beethovens und Schuberts wirkt die Einrichtung Thalbergs eher verwässernd, bei Mozarts „Voi che sapete“ der klavieristische Flitterkram in der Begleitung fast kitschig. Und wie ist es mit den Belcanto-Stücken Rossinis, Donizettis, Mercadantes und Bellinis? Die Primadonnen zu Thalbergs Zeit waren dafür berüchtigt, ihre Arien bis zur Unkenntlichkeit zu verzieren, was den alten Rossini dazu veranlasste, die junge Adelina Patti nach dem eigenwilligen Vortrag von „Una voce poco fa“ zu fragen: „Von wem war denn das Stück, das Sie da eben gesungen haben?“ Von dieser Eigenwilligkeit sind Thalbergs Transkriptionen weit entfernt, er hält sich ziemlich getreu an die Originale und versieht sie nur gelegentlich mit kleinen Arabesken.
Verdienstvoll, aber kaum folgenreich
„Thalberg, der musikalische Gentleman, der am Ende gar nicht nötig hätte, Klavier zu spielen, um überall als eine schöne Erscheinung begrüßt zu werden, und der sein Talent auch wirklich nur als eine Apanage zu betrachten scheint“, spöttelte Heinrich Heine 1844 in seinem Bericht aus dem Pariser Musikleben. Auch der Pianist Paul Wee hätte das Klavierspielen nicht nötig, denn obwohl er schon als 12jähriges Wunderkind in der Royal Albert Hall hervortrat und später in New York eine solide pianistische Ausbildung erhielt, machte er schließlich die Juristerei zum Hauptberuf, ist als Fachanwalt für internationales Handelsrecht erfolgreich und betreibt die Musik als Liebhaberei auf professioneller Grundlage. Er meistert die Herausforderungen der Kompositionen mit cooler Souveränität und bemüht sich mit Erfolg, die Gesangsstimme und die Begleitung klar voneinander abzuheben. Der markante und gelegentlich etwas harte Anschlag bringt den Flügel aber nicht wirklich zum Singen.
Fazit: Eine verdienstvolle Edition mit einem ausgezeichneten Booklet, das programmatische Erklärungen des Komponisten und exzellente Analysen des Interpreten in drei Sprachen enthält, die aber insgesamt nicht viel mehr als archivarischen Wert hat. Nach meiner Einschätzung wird sie keine Thalberg-Renaissance in den Konzertsälen einleiten.
Ekkehard Pluta [10.12.2020]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Sigismund Thalberg | ||
1 | A te, o cara (Quartett aus Bellinis I Puritani; aus L' art du chant appliqué au piano op. 70 Series I) | 00:05:10 |
2 | Tre Giorni op. 70 Nr. 2 (Pergolesi) | 00:05:23 |
3 | Adelaïde op. 70 Nr. 3 (Beethoven) | 00:06:26 |
4 | Pietà, signore op. 70 Nr. 4 (Stradella) | 00:09:04 |
5 | Lacrimosa op. 70 Nr. 5a (aus Mozarts Requiem) | 00:03:44 |
6 | Sull'aria op. 70 Nr. 5b (aus Mozarts Figaros Hochzeit) | 00:03:16 |
7 | Perchè mi guardi e piangi op. 70 Nr. 6 (aus Rossinis Zelmira) | 00:05:50 |
8 | Bella adorate incognita (aus Mercadantes Il Giuramento; aus L' art du chant appliqué au piano op. 70 Series II) | 00:05:51 |
9 | Nel silenzio fra l'orror op. 70 Nr. 8 (aus Meyerbeers Il Crociato) | 00:04:55 |
10 | Einsam bin ich nicht alleine op. 70 Nr. 9 (aus Webers Preciosa) | 00:03:12 |
11 | Der Müller und der Bach op. 70 Nr. 10 (aus Schuberts Die schöne Müllerin) | 00:04:29 |
12 | Schelm, halt fest! op. 70 Nr. 11 (aus Webers Der Freischütz) | 00:03:55 |
13 | Il mio tesoro op. 70 Nr. 12 (aus Mozarts Don Giovanni) | 00:04:50 |
CD/SACD 2 | ||
1 | Sérénade (aus Rossinis Der Barbier von Sevilla; aus L' art du chant appliqué au piano op. 70 Series III) | 00:03:45 |
2 | La dove prende op. 70 Nr. 14 (aus Mozarts Zauberflöte) | 00:03:56 |
3 | Barcarolle op. 70 Nr. 15 (aus Donizettis Gianni di Calais) | 00:06:50 |
4 | Protegga il giusto cielo op. 70 Nr. 16a (aus Mozarts Don Giovanni) | 00:03:38 |
5 | Là ci darem la mano op. 70 Nr. 16b (aus Mozarts Don Giovanni) | 00:03:31 |
6 | Sérénade op. 70 Nr. 17 (aus Grétrys L'amant jaloux) | 00:03:18 |
7 | Assisa a' piè d'un salice op. 70 Nr. 18 (aus Rossinis Otello) | 00:05:08 |
8 | Casta diva (aus Bellinis Norma; aus L' art du chant appliqué au piano op. 70 Series IV) | 00:06:18 |
9 | Voi che sapete op. 70 Nr. 20 (aus Mozarts Figaros Hochzeit) | 00:02:48 |
10 | Fröhliche Klänge, Tänze, Gesänge op. 70 Nr. 21 (aus Webers Euryanthe) | 00:04:18 |
11 | Dafydd y garreg wen op. 70 Nr. 22 (alter Bardengesang) | 00:03:15 |
12 | Ein Mädchen, das auf Ehre hielt op. 70 Nr. 23 (aus Haydns Die Jahreszeiten) | 00:04:10 |
13 | Fenesta vascia op. 70 Nr. 24 (Neapolitanisches Lied) | 00:03:46 |
14 | Täuschung op. 79a Nr. 1 (aus Schuberts Die Winterreise) | 00:01:23 |
15 | Der Neugierige op. 79a Nr. 2 (aus Schuberts Die schöne Müllerin) | 00:04:10 |
16 | Die Post op. 79a Nr. 3 (aus Schuberts Die Winterreise) | 00:02:15 |
17 | Auf Flügeln des Gesanges (Mendelssohn) | 00:02:58 |
18 | Mi manca la voce aus der Oper »Mosè« von Rossini op. 36 Nr. 3 | 00:03:39 |
Interpreten der Einspielung
- Paul Wee (Klavier)