Julius Röntgen Complete Cello Concertos
cpo 777 234-2
1 CD • 63min • 2006
04.09.2013
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Nicht nur bei medizinischen Röntgen-Aufnahmen sollte man stets auf Überraschungen gefaßt und demzufolge auf dem Quivive sein. Auch die beeindruckende Serie, die cpo dem Wahlamsterdamer aus Leipzig gewidmet und die jetzt mit der zehnten Veröffentlichung ihre erste kleine Jubiläumsstation ereicht hat – auch diese Beiträge zum vokalen, sinfonischen und konzertanten Schaffen des eigenartigen Mannes, der für das niederländische Musikleben eine nicht unmaßgebliche Rolle gespielt hat, stecken so voller Unwäg- und Sonderbarkeiten, dass niemand aus einer vielleicht nicht eben glanzvollen Kreation auf das Gros oder auch nur auf die Werkgruppe schließen sollte, zu der das betreffende Stück gehört.
Nicht einmal der beliebte Faktor der Zeit, sprich: der künstlerisch linearen Entwicklung darf bei Julius Röntgen als Kriterium gelten. Wer sich auch nur ein wenig auf das diffuse Œuvre einläßt, das uns bislang zugänglich ist, gewinnt bald den Eindruck, dass vieles – oft durch ganz einfache äußere Impulse angeregt – mit enormer Spontaneität und so hurtig aufs Papier geworfen wurde, dass der zerstörerische Dämon des Selbstzweifels gar keine Chance hatte, aus seinen mephitischen Sümpfen aufzusteigen. In einer anderen Abteilung der schöpferischen Werkstatt mochte dann der Redaktor Röntgen womöglich mit grober Raspel die Kanten glätten, die Schrunden lindern oder den Wildwuchs ein wenig kappen: Die eigentliche Partitur war in der Welt, und damit war das Wichtigste getan.
So stellt sich Julius Röntgen, der treusorgende Familienvater, Lehrer, Administrator und Tonkünstler als eine sympathische Erscheinung dar, an deren klingendem Vermächtnis wir unser Differenzierungs- und Urteilsvermögen unablässig üben können, weil das qualitative Auf und Ab oder Hin und Her keinerlei vorschnelle Entschlüsse duldet. Herrliche Einfälle, bewegende Erfindungen, sensible Instrumentaleffekte und mitunter gar avancierteste Satztechniken wie in der späten Bläsermusik (cpo 777 127-2) stehen auf ein- und derselben CD unter Umständen leicht strapaziösen Strecken gegenüber, in denen Röntgen eine Geste oder eine Struktur bis zur Erschöpfung trieb, indessen feine, tief empfundene Melodien „der Völker" – was hat er nicht allein bei seinem Freunde Edvard Grieg in Norwegen entdeckt! – oder eigene Inventionen hier und da durch allzu ausgiebige Betrachtungen in tiefen Schlummer fallen ...
Vor diesem Hintergrund werden wir die soeben erschienene Einspielung der Cellokonzerte erst recht zu würdigen wissen. Zwar ist dem ersten der drei Werke eine gewisse Neigung zur Plauderei nicht völlig abzusprechen (weshalb es vermutlich auch ans Ende des Programms gesetzt wurde). Doch schon in diesem 1893 entstandenen Dreisätzer wird deutlich, dass Röntgen dem hier bedachten Soloinstrument eine ganz besonders sprachgewaltige Funktion zubilligt: Die Eloquenz des Kopfsatzes, der gut die Hälfte des halbstündigen Stückes einnimmt, das demgegenüber auffallend konzise Un poco andante und das sprudelnde Finale, bei dessen Entstehung offenbar die eine oder andere Zigarette Marke Carmen in Rauch aufging, fügen sich zu einem einleuchtenden Ganzen, das sich freilich weitgehend im formal gewohnten Rahmen bewegt. Von diesem Punkt aus führen zwei staunenswerte Sprünge in die Jahre 1908 und 1928, das heißt zu den zwei ungemein rhapsodischen Konzerten, die Röntgen für den Freund Pablo Casals (Nr. 2) beziehungsweise für den Sohn Edvard (Nr. 3) verfaßte. Da zeigt sich der Komponist auf einem Niveau, an dem nicht viel zu deuteln sein wird: Während der Solist jetzt nicht mehr nur die Führung, sondern in ganz dramatischem Sinne auch die Hauptrolle spielt – beide Konzerte beginnen mit ausführlichen Monologen und bieten auch weiterhin wortgewaltige Szenen –, scheut sich der Verfasser nicht, nach Herzenslust vertraute Figuren der Historie auf die Bühne zu bringen, Schumanneske Gebärden und Brahmsísche Triolenexplosionen mit einer vernehmlichen Hommage an Edvard Grieg zu kombinieren oder ins Zentrum des dritten Konzerts eine delikate Variationsfolge über ein irisches Volkslied zu stellen, dessen entzückende Behandlung allein ausreichte, uns den Julius Röntgen der späte(re)n Jahre in den freundlichsten Farben zu schildern. Die bewußten Ruppigkeiten der Orchestration und ihre subtilsten Wirkungen (im Kopfsatz des dritten Konzerts führen Cello und Celesta einen raffinierten Dialog), die dankbaren Soli und ihre fesselnden Resonanzen, der hochmotivierte, ausdrucksstarke Gregor Horsch und das von David Porcelijn spannungsreich geleitete Symphonieorchester der Niederlande machen diese CD jedenfalls zu einem rundum gelungenen Plädoyer für den Komponisten und weitere Röntgen-Aufnahmen.
Rasmus van Rijn [04.09.2013]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Julius Röntgen | ||
1 | Konzert Nr. 3 für Violoncello und Orchester | 00:14:51 |
4 | Konzert Nr. 2 für Violoncello und Orchester | 00:18:38 |
9 | Konzert Nr. 1 für Violoncello und Orchester | 00:28:42 |
Interpreten der Einspielung
- Netherlands Symphony Orchestra (Orchester)
- Gregor Horsch (Violoncello)
- David Porcelijn (Dirigent)