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Besprechung CD

cpo 777 478-2

1 CD • 80min • 2008, 1997

11.12.2009

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Klassik Heute
Empfehlung

Beethoven, Milhaud, Schubert, Koechlin, Reger, Bach-Busoni… – Michael Korsticks anspruchsvolle, literarisch oft ungewöhnliche, mutige Projekte für die Label Hänssler und cpo beschäftigen seit Jahren und im besten Sinne die musikalisch interessierte Öffentlichkeit. Dass er sich jetzt zwei Werkkomplexen aus dem Schaffen Franz Liszts zugewandt hat, überrascht mich nicht, denn von seinen intellektuellen, manuellen und – wie mir scheint – auch von seinen emotionalen Fähigkeiten her sollte er für die landschaftlich-schriftstellerischen Wechselfälle der schweizerischen „Wanderjahre“, aber auch für die konstruktive Erregtheit der h-Moll-Sonate ein trefflicher Sachwalter sein.

Schon der erste Höreindruck auf eidgenössischem Terrain bestätigt diese Vermutungen, denn Korstick findet von den ersten Ruhezonen der „Tellskapelle“ an ortskundig in die Massierungen gedrängter Akkordik, entfaltet Kräfte in sorgfältiger Abstufung und mit harmonischen Binnengewichtungen. Dies gilt für alle ähnlichen Passagen im Verlauf dieser geographisch bald unbestimmten, bald lokal gekennzeichneten Rundreise bis zur Endstation Genf, wo Korstick die von Liszt als Motivklammern eingesetzten Glockenschläge – mannigfaltig differenziert – als Vorboten des französischen Impressionismus in Erinnerung bringt.

Zart, indes genügend plastisch, phrasiert Korstick die Initialbewegung der linken Hand im folgenden Stück. Alfred Brendels Einschätzung, es handelte sich hier um die musikalische Ausformung des sanften Ruderschlags eines Bootes auf dem „Wallenstädter See“ darf man unbedenklich folgen. Nicht weniger anschaulich gelingen Korstick die weiteren Genrebilder, dabei ohne jede Überbetonung des Technischen in der Quellfreudigkeit des vierten Stückes (Au bord d’une source), dessen quirlige, glitzernde Figurationen allzu oft zu Etüden ähnlicher Oberflächenbrillanz verleiten.

Vergleichsweise zurückhaltend in der Dynamik (kaum Crescendo!) eröffnet Korstick die tumultöse Gewitterszene Orage, lässt dann aber im Tosen der Oktaven, im klavieristischen Kampf zwischen Blitz und Donner nichts an Passion, an wetterkundlicher Präzision zu wünschen übrig. Diese Mischung aus Exaltation und Beherrschung adeln und entfesseln zugleich auch das tobende Finale der Roman-Musikalisierung Vallée d’Obermann und die Stretta-Entwicklung der h-Moll-Sonate, ehe Korstick das Werk in leise vibrierender Besinnlichkeit zu Ende führt.

Wenn im Umfeld von Korsticks Interpretationen gerne der Begriff „Werktreue“ genannt wird, dann muss das nicht nur eine pauschale Annahme bleiben, man kann es auch an vielen Punkten seines Wirkens belegen. Nur ein Beispiel: die ersten beiden, thematisch fundamentalen Oktavintervalle – zuerst die linke Hand allein, dann beide Hände unisono und als „echte“ Oktaven notiert –, diese beiden Segmente sind von Liszt in identischen Werten notiert. In den allermeisten der mehr als 300 mir zur Verfügung stehenden Studio- und Live-Aufnahmen werden die beiden beidhändig zu spielenden Oktavsprünge langsamer, oft viel langsamer, zuweilen von einer Pause vorbereitet vorgetragen – also völlig im Widerspruch zum Text. Die Angst vor einem Fehlgriff mag dabei eine Rolle spielen, doch was bedeutet schon ein kleiner Missgriff in Anbetracht einer Verzerrung der für den Gesamtverlauf einer Interpretation so wichtigen thematischen Schreibverfügung! Korstick hält sich an den Text, findet auch für die am Beginn des Werkes stehenden Einzeltöne in der Basslage eine mich überzeugende Synthese von punktueller Gewichtung – also in Abstimmung von Länge, Farbe und Intensität. In ihnen – so empfinde ich es – sollte das ganze Werk wie in einem leisen Urknall schon spürbar enthalten sein!

Ich bin kein Freund von Ranglisten, auch nicht von ganz persönlichen! Aber an dieser Stelle zögere ich nicht, Korsticks Deutung der Liszt-Sonate auf eine imaginäre Stufe mit – freilich anders gearteten – Interpretationen von Richter, Arrau, Gilels, Brendel, Weissenberg und Afanassiev zu stellen. Nebenbei bemerkt: Afanassievs zweite Einspielung bei Denon nimmt knapp 43’ Minuten in Anspruch. Das gelegentlich in 26 Minuten heruntergespulte Werk (Berezovsky 2002 in Roque d’Antheron!!) als verschleppte Götterdämmerung im Namen Liszts, wenn man will, ein schonungsloses Experiment wider alle gewachsenen, aber auch schamlos imitierten Anschauungen.

Vergleichsaufnahmen: Sonate h-Moll: Vasáry Hungaroton HCD 32271), Arrau (Philips), J. Margulis (AM 1379), Richter (Philips, Brillant Classics 92229 / III / Moskau 1965), Leschenko (avanti classic SACD 5414706 10272), Sticken (Thorofon CTH 2489), Kuleshov (VAIA 1265), Anda (Köln/WDR 22.7.1955 audite 23.408), Kozlova (Avi-music 8553012), Afanassiev (EMI, Denon), Rose (Medici Classics M 30092), Deliyska (Gramola 98853), L. Berman (1955 /Brillant classics 8713/24, DG), Gilels (1949 /Brillant classics 8713/13, 1965 /Brillant classics 8713/13), Goerner (Cascavelle VEL 3101), Wang Yuja (DG 477 8140) Weissenberg (EMI), Brendel (Vox, Philips); Première Année „Suisse“: Brendel (Philips 462 312-2, später DG DVD 00440 073 4146), Chamorel (Doron music DRC 3052), Kocsis (Philips), Tsuda (Cyprès 5616), L. Berman (DG); Orage : L. Berman (Milano1976 /IDIS 6497/98); Au bord d’une source: Dichamp (Lyrinx 176), Horowitz (Great Pianists Philips 456 844-2), Kempff (Great Pianists Philips 456 865-2), Solomon (Naxos 8.110680), d’Albert (The Piano Library 250), Kempff (NDR Music & Arts 1071)

Peter Cossé † [11.12.2009]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Franz Liszt
1Années de Pèlerinage - première année: Suisse S 160 00:50:29
10Klaviersonate h-Moll S 178 00:28:49

Interpreten der Einspielung

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