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Besprechung CD

Beethoven - Sinfonien

EMI 5 57445 2

5 CD • 5h 43min • 2002

18.07.2003

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 6
Klangqualität:
Klangqualität: 6
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 6

Wieder einmal „Alle Neune“ auf CD! Und wieder einmal frage ich mich, ob dies wirklich sein muß – zumal, wenn das Ergebnis in jeder Hinsicht so halbherzig ausfällt wie hier. Fangen wir bei der Aufmachung an, denn das Äußere steht hier durchaus im krassen Gegensatz zum musikalischen Ergebnis: Ein luxuriöser Schuber in Kupferoxidgrün und Gold; ein solide in Leim und Faden gebundenes, 88-seitiges Booklet; die fünf CDs in bedruckten Papphüllen beidseitig mit Fotos versehen (ein einziges von Beethoven, ein Faksimile, aber etliche von Simon Rattle und wenige aus dem Musikvereinssaal, in dem diese Einspielung zwischen dem 29. 4. und 17. 5.2002 live mitgeschnitten wurde).

Im Booklet selbst ein langer Text von Richard Osborne, der einem mitunter die Tränen in die Augen treibt – so sehr ergeht sich der Autor in althergebrachter Heldenverehrung und hoffnungslos falsch verstandenem Historismus. Mitunter argwöhnt man da, Gottvater Karajan selbst habe seinem Jünger die Feder geführt, etwa, wenn Osborne betont, von welch überragender Bedeutung der nachschöpferische Interpret für die Musik Beethovens sei. Das ist kein Wunder: Osborne gehört zu denen, die auch lange nach dem Ableben des Maestro immer noch vom „System Karajan“ profitieren und eifrig an der Legende stricken. So wagte er es jüngst, im Anhang seiner 1000seitigen Karajan-Biographie durch geschickte Text-Anordnung und Fakten-Manipulation den zweimaligen NSDAP-Eintritt des Maestro auf eine Weise herunterzuspielen, die fast schon demagogisch zu nennen und eines Forschers schlicht nicht würdig ist. Diese Anmerkung gehört durchaus hierher, weil die Art und Weise dieses Vorgangs auch zur hier vorgelegten Einspielung paßt: In der Aufmachung ist sie geradezu auffällig um Wahrung gewisser Legenden und Klischees bemüht, eben weil sie dadurch das inhärente Innovative völlig herabspielt – nämlich die erstmalige Beschäftigung der Wiener Philharmoniker mit Ideen historisch informierter Aufführungspraxis im Rahmen eines ganzen Beethoven-Zyklus auf Tonträgern. Zwar ist Simon Rattle bekannt für seine intensive und geistvolle Beschäftigung mit historisch informierter Aufführungspraxis (z.B. durch seine langjährige Arbeit mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment), aber die Wiener Philharmoniker sind es bislang eben nicht. Entsprechende Impulse haben sie zwar jüngst durch die Arbeit mit Künstlern wie Norrington, Gardiner und Harnoncourt erhalten, aber Aufführungspraxis ist ihnen weiß Gott kein Herzensanliegen. Warum also gerade diese Paarung?

Desweiteren ist auffällig, daß schon im gesamten Booklet von diesem Thema keine Rede ist. Nichts über Beethovens Metronomangaben, nichts über Besetzungsstärken, Orchesteraufstellungen, nichts über Affekte, Symboliken, Instrumentenfarben, nichts über die Beredtsamkeit der Musik (die erst seit Harnoncourt und Norrington zunehmend wiederentdeckt wird). Nur ein knapper Text vom Herausgeber der neuen Urtextausgabe, Jonathan Del Mar, ist enthalten, dessen Name allerdings im Inhaltsverzeichnis (S. 3) als einziger Autor fehlt. Clemens Hellberg, Vorstandsmitglied des Orchesters, darf sich hingegen sechs Seiten lang über die Berufung der Philharmoniker auf Beethoven auslassen, doch auch da kein Wort über beispielsweise deren eigene Aufführungspraxis. Übrigens gibt es keine einzige biographische Angabe zu den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern. Soll hier sympathische Bescheidenheit vermittelt werden, oder möchten die Editoren vielmehr den Eindruck des Booklet-Textes bestätigen – was ist schon der Mensch gegenüber einem Genie wie Beethoven...?

Dann das Klangbild. Zwar sitzen die Wiener Philharmoniker gottlob in ihrer traditionellen Aufstellung mit den Violinen links und rechts, doch das Klangbild ist so wenig differenziert, daß ich mir über die Orchesteraufstellung beim Abhören der Ersten mit der Partitur erst zu Beginn des zweiten Satzes wirklich sicher war, denn da wird das Thema von den zweiten Geigen begonnen, und hier eindeutig von rechts (CD 1, Tr. 2). Merkwürdig ist auch die Gesamt-Balance: Die ersten Violinen stehen geradezu penetrant im Vordergrund; oft hört man nichts anderes mehr. Außerdem sind selbst im Vergleich zu anderen Beethoven-Einspielungen aus dem gleichen Saal und unter Berücksichtigung des dortigen, steil ansteigenden Podestes (das eine gute Balance erleichtert) die Holzbläser auch in den lauten Tutti so gut hörbar, daß mich wirklich interessieren würde, wie stark die Streicher jeweils besetzt waren, ob Rattle die Holzbläser verdoppeln ließ, oder ob sie durch Extra-Mikros ausgepegelt wurden. Natürlich klingt das so jedenfalls nicht; viele Holzbläsersoli wirken nachreguliert. Darüber hinaus erscheinen einmal mehr die modernen Blechblasinstrumente mit ihren weiten Bohrungen und dem heutigen großen Volumen wie eine Travestie: Erstaunlich, daß nur drei bis vier moderne Hörner plus zwei Trompeten im Tutti ein ganzes Orchester an die Wand drücken können...!

In Sachen Spieltechnik geben sich die Wiener Philharmoniker erfreulich Mühe: Wer schon live erlebt hat, wie gern dieses Orchester sich unter Umständen der eigenen mezzoforte-Bequemlichkeit hingibt, ist positiv überrascht von der hier gezeigten großen dynamischen Bandbreite, der sorgfältigen Akkuratesse der Artikulation, dem äußerst zurückhaltenden Vibrato der Streicher. Ein Dirigent dürfte übrigens auch bei den allermeisten Flötisten andernorts auf allergrößten Widerstand stoßen, wenn er versucht, ihnen das Dauervibrato so erfolgreich auszutreiben, wie es Rattle hier zumindest bei einem der beiden alternierenden ersten Flötisten gelang. Andererseits sind die Wiener Philharmoniker immer noch auf absolute Homogenität gedrillt. Die Verschmelzung der Bläser- und Streichergruppen ist so groß, daß man eine Eigenfarbigkeit kaum mehr wahrnimmt. Wie verschwommen klingt hier beispielsweise der Choral der Bläser im Kopfsatz der Eroica kurz vor der Hauptthemen-Reprise (CD 1, Tr. 5, ca. 12'03), und wie trennscharf und spannend spielten dies die London Classical Players unter Norrington! Oder der Beginn des Trauermarsches der gleichen Sinfonie: So „vollendet“ hier die Nuancen ausgelotet sind, so wundervoll beispielsweise die Kontrabässe ihre Einschleifen spielen (CD 1, Tr. 6) – die Musik an sich wirkt steril, wie aus der Kühlkammer.

Oder die Pastorale: In spießiger Beschaulichkeit, stets wie gefärbt in Altgold, verharrt das gesamte Werk (!) in jener Stimmung, die Rattle in den Anfangstakten heraufbeschworen hat. Trotz des flüssigen Tempos wirkt der Bach (CD 3, Tr. 6) wie ein beinahe stehender Kanal im Park, das Gewitter (Tr. 8) ist nur ein Sturm im Wasserglas, mit einer handzahmen Pauke, so stumpf, schwach und fern wie aus der Regentonne. Diese Sinfonie, die ich live zuletzt unvergeßlich unter Norrington in Stuttgart hörte, haben auch die Wiener Philharmoniker schon einmal viel überzeugender eingespielt – sogar auf Darmsaiten, ohne Vibrato, mit diskretem Portamento und ungeheurer Verve im Ausdruck: Nämlich im April 1928, unter Franz Schalk (Preiser 90111)!

Oder die Siebente: Das Finale (CD 4, Tr. 4) darf sich eben nicht in betulicher Freude an endloser Wiederholung ergehen wie hier. Rattle versuchte den Satz dadurch zu meistern, indem er jedesmal, wenn das Thema wiederkommt, das kontrollierte Tempo vom Beginn anschlug. Doch das geht nicht auf, da die zuvor gesammelten Energien sich dadurch wieder abbauen, und gerade in den Schlußtakten läßt Rattle eben nicht die Zügel schießen; es gibt bei ihm keine Entäußerung im Klang. Der Satz sollte stattdessen eigentlich den Hörer regelrecht hinwegfegen wie die französischen Revolution, so daß man hinterher vor Bestürzung Luft holen muß – wie beispielsweise in der feurigen, unübertroffenen Darbietung von Fritz Reiner (1955, BMG/RCA Victor Living Stereo, 09026 68976 2).

Man bekommt den Eindruck, daß die in der Rangliste der Beliebtheit selteneren Sinfonien – nämlich die Erste, Zweite, Vierte und Achte – sorgfältiger erarbeitet wurden und das Orchester vielleicht mehr interessierten und zu größerem Engagement einluden als die Evergreens, bei denen sich Rattle und die Wiener weitaus mehr Freiheiten in der Gestaltung erlauben. Dies betrifft einmal größere Schwankungen im Tempo, unter denen insbesondere Sätze zu leiden haben, die vor allem vom Rhythmus her geprägt sind (Kopfsätze der Dritten und Siebenten), aber auch Schlampereien, hervorgerufen vielleicht durch eine gewisse Langeweile: Gleich zu Beginn der Neunten zum Beispiel verzeichnet die Partitur ab Takt 11 ein allmähliches crescendo hin zum Hauptthema in Takt 17; hier jedoch kann sich die Lautstärke schon nach zwei Takten kaum mehr steigern (CD 5, Tr. 1, 0'25). Die Neunte ist überhaupt vielleicht der traurige Tiefpunkt dieses Zyklus: Im Bemühen, dem ästhetischen Anspruch „der Neunten“ gerecht zu werden, mäandern die Tempi in Furtwänglerscher Manier. Die Straffheit der Linie, die in Norringtons beiden Einspielungen so überzeugend gespannt wird, verfällt bei Rattle zu einem Stückwerk schöner Einzelepisoden. Spätestens im Kopfsatz der Neunten fällt übrigens auch auf, daß es bei Rattle bei allen neun Sinfonien keinen einzigen der charakteristischen von Hand gestopften Töne der Hörner gibt, die Beethoven an manchen Stellen bewußt als Klangfarbe eingesetzt wissen wollte. Im Scherzo ist die prägnante Punktierung des Kopfmotivs oft allzu verwaschen; das Adagio wird in typisch Spät-Karajanscher Manier unerträglich verschleppt und mit Vibrato überzuckert (bei Rattle 17'03; bei Norrington 11'03, und in dessen jüngsten Einspielung bei Hänssler immerhin auch nur 13'58). Das Baßrezitativ zu Beginn des Finales klingt etwa so, wie Thomas Hampson es später auch singt – was konsequent, aber nicht gerade beredt ist und wie eine ziemlich pathetische Fischer-Dieskau-Imitation wirkt.

Die Gesangsolisten zelebrieren ihr leider offenbar unausrottbares Dauer-Vibrato, erzielen zwar trotz allem einen homogenen Ensemble-Klang, wirken aber mitunter ein wenig gelangweilt, besonders Hampson, dem man die „Freude“ nicht recht abnehmen mag. Einzelne Soli haben allerdings viel weniger Durchschlagskraft und werden vom Tutti leicht überrannt (z.B. Kurt Streit in seinem Sonnen-Marsch, CD 5, Tr. 5, ca. 5'11). Der Chor ist (abgesehen von der Coda des Finales) ausgezeichnet durchhörbar, ohne zu brüllen, intoniert sauber und artikuliert sehr plastisch; allerdings hört man dabei gelegentlich den britischen Akzent durch – anders leider als bei Thomas Hampson, der völlig akzentfrei singt. Warum mußte es eigentlich der Chor aus Birmingham, der alten Heimat von Simon Rattle, sein – ein ausdrücklicher Wunsch des Dirigenten, Unwägbarkeiten der Terminplanung, oder ein bestimmter Deal?

Und wo bleibt das Positive...? Sorry, aber auch nach dem zweiten Durchhören (nun ohne Partitur und nur für das Sich-den-Klängen-Überlassen) ist bei mir rein gar nichts hängengeblieben, was mich besonders positiv berührt hätte. Der unbedarfte Klassik-Kunde ist mit diesem Beethoven-Zyklus (der immerhin den Vorzug hat, durch die live-Einspielung innerhalb von drei Wochen in sich homogen und schlüssig zu sein) zwar sicher nicht besser oder schlechter dran als mit anderen durchschnittlichen Gesamteinspielungen. Gleichwohl könnte ich für jede einzelne Sinfonie mehrere Einspielungen nennen, die weit mehr unter die Haut gehen (Zyklen z.B. unter Roger Norrington, René Leibowitz, Roy Goodman), anrühren (Zyklen unter Norrington und Wilhelm Furtwängler; Sechste und Achte unter Franz Schalk), aufwühlen (Eroica unter René Leibowitz oder Robert Bachmann; Vierte und Fünfte unter Carlos Kleiber; Siebente unter Fritz Reiner oder Evgenij Mravinskij; Neunte unter Sergiu Celibidache, Goodman und Norrington) oder zumindest im fruchtbaren Sinne nachdenklich machen (Zyklen unter Daniel Barenboim und Felix von Weingartner). Solche Vergleiche mögen vielleicht nicht fair sein. Doch diese Neuproduktion unter Rattle huldigt – bei aller „historisch informierten Bemühtheit“ in der unbestritten durchdachten Umsetzung durch den Dirigenten – in der ästhetischen Aussage der hier entstandenen Musik, aber auch in ihrer äußeren Aufmachung, im tendenziösen Booklet und in der recht pauschalen, unräumlichen Klanggestaltung durch die Technik hoffnungslos veralteten Götzen. Beethovens Musik wird hier nicht als Wagnis, sondern allzusehr auf Kontrolle und Sicherheit bedacht musiziert. Die neue, soeben bei Hänssler erschienene Gesamteinspielung mit dem RSO Stuttgart unter Roger Norrington ist mir da doch weitaus sympathischer, weil ehrlicher: Das RSO läßt sich auf weitgehend modernen Instrumenten (allerdings mit eng mensurierten Posaunen und Trompeten) bewußt und mit viel Entdeckerfreude darauf ein, so historisch informiert wie möglich zu spielen, und legt damit ein ernsthaftes und vorbildliches Bemühen an den Tag, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Einem vorgeblich traditionsbewußten Orchester wie den Wiener Philharmonikern mit ihrer Geschichte sollte ein solches Bemühen um Aufführungspraxis erst recht ein Herzensanliegen, ja eine besondere historische Verpflichtung sein. Gerade in Wien mangelt es ja nicht an spielbaren Instrumenten aus dem 19. Jahrhundert, und auch Darmsaiten und angepaßte Bögen dürften für solche Profi-Streicher kein Problem sein, wie z.B. das Ensemble Concentus Musicus unter Beweis stellt. Die einzigartigen Philharmoniker jedoch verkaufen „ihren“ Beethoven selbstherrlich als Luxusware für den Konsum und stellen so den „Karajanismus“ auf eine neue, höhere Stufe. Denn diese Einspielung gibt – ähnlich wie die von David Zinman – im klanglichen Ergebnis zwar vor, einige Belange historisch informierter Aufführungspraxis (von der Karajan selbst bekanntlich gar nichts hielt) zu integrieren, um sie aber zugleich elegant 'en passant' zu negieren: Von hinten durch die Brust ins Auge. P. S.: Ich wäre nun wirklich neugierig, im Musikvereinssaal mal den ganzen Beethoven-Zyklus vom Concentus Musicus unter Nikolaus Harnoncourt zu hören...

Dr. Benjamin G. Cohrs [18.07.2003]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Ludwig van Beethoven
1Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
2Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 (Eroica)
3Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36
4Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67
5Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60
6Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 für Orchester (Pastorale)
7Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92
8Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93
9Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (mit Schlußchor über Verse aus Schillers "Ode an die Freude")

Interpreten der Einspielung

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