Irina Muresanu plays Violeta Dinescu
Solo Violin Works

métier mex 77106
1 CD • 71min • 2022
13.08.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Klassik Heute
Empfehlung
Rumänische Komponisten? Außer George Enescu und vielleicht noch Dinu Lipatti fallen einem da spontan kaum Namen ein, wobei letzterer heute eigentlich nur noch als Pianist in Erinnerung geblieben ist. Hätte das Label cpo 2013 nicht wenigstens die 4. Sinfonie (von insgesamt 24 Gattungsbeiträgen!) des siebenbürgisch-sächsischen Komponisten Wilhelm Georg Berger (1929–1993) eingespielt – übrigens eine hervorragende Aufnahme, die auch Bergers herrliches Violakonzert, gespielt von Nils Mönkemeyer, zu Gehör bringt, aber leider längst vergriffen ist –, so wüssten wir von diesem rumänischen Meister diskographisch rein gar nichts. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Bergers Zeitgenossen und Landsmann Anatol Vieru (1926–1998), der unter anderem sieben Sinfonien und acht Streichquartette schrieb. Das Label Troubadisc hatte vor rund 10 Jahren eine Vieru-Reihe gestartet, die aber über die ersten drei Volumes (auf der immerhin die Sinfonien 1, 2, 6 und 7 zu hören sind) nie hinaus gekommen und heute ebenfalls vergriffen ist. Glücklicherweise hat Toccata Classics Vieru gerade wieder in Erinnerung gebracht – mit einem starken Kammermusik-Album, auf dem neben seinem Klaviertrio und der zweiten Klaviersonate auch ein Werk (Versete, Verse) für Klavier und Violine zu hören ist. Die traurige Botschaft: Auch Toccata Classics plant (aktuell) keine Fortsetzung der Vieru-„Reihe“, was für ein Jammer! – Wie also schaut es aus beim Thema Komponisten und Komponistinnen aus Rumänien?
Der „Raum zwischen den Noten“
Die 1953 in Bukarest geborene, seit 1982 in Deutschland lebende Komponistin und Musikwissenschaftlerin Violeta Dinescu – sie war 25 Jahre am Institut für Musik der Universität Oldenburg tätig – darf man zusammen mit ihrem Landsmann Dan Dediu (Jg. 1976) als „Fackelträger“ der aktuellen rumänischen Komponisten-Szene bezeichnen. Auf Tonträgern ist Dinescu bei verschiedenen Labels sehr gut vertreten. Das jetzt bei Métier erschienene Album mit Werken für Solo-Violine, gespielt von Irina Muresanu – die ebenfalls aus Rumänien stammende Geigerin hatte 2021 zusammen mit der Pianistin Valentia Sandu-Dediu für Métier das Album „Hybrids, Hints & Hooks“ mit Musik von Dan Dediu eingespielt – ist ein echtes Highlight in der Dinescu-Diskographie. Auf ihm zu hören sind acht zwischen 1982 (Satya I) und 2017 (De-ale Lupului) Kompositionen für Solo-Violine, von denen das erste, Aretusa (1988) überschriebene Stück mit seinen gut 16 Spielminuten das längste, bekannteste und vielleicht auch faszinierendste ist. Bei Vista (2014) und De-ale Lupului handelt es sich um Zyklen: Vista (Blick) umfasst sechs, De-ale Lupului (Vom Wolf) drei Sätze.
Im Vorwort von Irina Muresanu erfahren wir, dass Aretusa ihre erste Begegnung mit der Musik von Violeta Dinescu war und dass sie mit diesem Stück 1995 einen Preis beim Montreal International Violin Competition gewonnen hatte. „Dinescus Musik ist auf dem Papier visuell faszinierend und klanglich hypnotisch“, schreibt die Geigerin in ihrem Vorwort. „Werke wie ‚Aretusa‘, ‚Satya I‘ oder ‚Il faudrait d’abord désespérer‘ (2000) haben die Fähigkeit, den Zuhörer in transzendentale Zustände zu versetzen; wie die Komponistin selbst sagt, entfaltet sich die rhapsodische Struktur der Musik wie ein Zauberteppich. […]. Die Zusammenarbeit mit Violeta Dinescu bei der Vorbereitung dieser CD hat mir ein neues Musikportal eröffnet: Ich habe Klänge entdeckt, von denen ich nicht wusste, dass meine Geige sie besitzen.“ Auch Violeta Dinescu hat ein Vorwort zur CD beigesteuert. Darin attestiert die Komponistin der Geigerin, sie habe mit ihrer Darbietung „den Raum zwischen den Noten“ zum Vorschein gebracht. Dinescu resümiert: „Es ist nicht leicht, Irinas Spielweise zu beschreiben, denn Worte reichen dafür nicht aus. Es ist eine große Freude, in ihrem ganz besonderen Verständnis meiner Stücke eine fast magische Kommunikation zu entdecken, in der […] sich ihre Fähigkeit zur […] lebendigen Vermittlung des musikalischen Diskurses vor uns entfaltet.“
Traditionelle rumänische Musik – eigenständig neu komponiert
Ich muss gestehen, dass dieses Album mit Solo-Violin-Werken meine erste Begegnung mit der Musik von Violeta Dinescu war – und ich gebe ebenfalls gerne zu, dass mich die CD von den ersten Takten an sofort und ganz intensiv in den Bann gezogen hat, zumal sie mir neue Hörwelten erschlossen hat, die ich so nicht erwartet hätte. Sicherlich hat Dinescu die großen Solo-Violin-Werke – von Bach und Paganini über Reger und Ysaÿe bis Bartók und – natürlich – Enescu rezipiert und verarbeitet. Gleichwohl hat man den Eindruck, dass sie das Genre nochmals ganz neu erfindet und der Geige dabei Klänge entlockt, von denen ich nicht wusste, dass das Instrument sie besitzt – um eine Formulierung von Irina Muresanu zu paraphrasieren. Die Struktur der Werke ist dabei zumeist rhapsodisch, besser gesagt: erzählerisch motiviert und speist sich dabei oft entweder aus Elementen der Mythologie (Aretusa ist der Name einer griechischen Nymphe), der Literatur (À chaque epée de lumière und Pour triompher du soleil, beide 1996, beziehen sich auf den Roman „L’Étranger“ von Albert Camus), oder der Kultur- und Sprachgeschichte (Satya ist ein Wort aus dem Sanskrit, das auch ein Ritual bezeichnet). In vielen Werken Dinescus vermeint man, „typisch“ rumänische Klänge zu vernehmen, die aber sehr vermittelt sind. Die Komponistin erklärt dazu im Booklet: „Das musikalische Material des Werks [„Aretusa“] ist gleichermaßen von traditioneller rumänischer Musik inspiriert, die jedoch nicht zitiert, sondern eigenständig neu komponiert wird, wodurch gewissermaßen ein ‚Raum zwischen den Noten‘ entsteht. Die spärliche musikalische Grundsubstanz entfaltet sich in einem kontinuierlichen Wandel und ermöglicht so letztlich die Wahrnehmung einer Erzählung.“ Man kann dieses herrliche Album sowohl sehr gut am Stück als auch unterteilt in Abschnitte hören, ich persönlich empfehle die vier Sektionen: Track 1 (Aretusa) / Tracks 2 bis 7 (Zyklus Vista) / Tracks 8 bis 12 / Tracks 13 bis 15. Die drei zuletzt genannten Tracks umfassen das dem rumänischen Geiger Șerban Lupu (1952–2023) gewidmete Werk De-ale Lupului, das zwar „nur“ rund neun Minuten lang dauert, dabei aber nochmals ganz neue Töne (auch der menschlichen Stimme) anschlägt und das man sich am besten separat zu Gemüte führt.
„Magische Kommunikation“
Was die Akustik der CD betrifft, schließe ich mich dem Urteil von Irina Muresanu an, die in ihrem Vorwort schreibt: „Vielen Dank an den fabelhaften [Produzenten und Tontechniker] Jean-Marc Laisné für die makellose Aufnahme, die den Klang und den Geist aller Beteiligten einfängt!“ Und was die Spielweise der Geigerin und ihre Lesarten der Werke betrifft, ist es (für mich) schwer, ein „sachliches“ Urteil abzugeben. Erstens gibt es meines Wissens keine Vergleichsaufnahmen der Werke, zweitens – und wichtiger! – ist mir selten eine Aufnahme bzw. eine Musik begegnet, in der Darbietung und Werk eine so kongeniale und symbiotische Einheit bilden wie hier. Vielleicht kann man es am besten so ausdrücken: beim Anhören der CD stellt sich die Frage nach der Güte und Adäquatheit der Interpretation nicht; sie wird von Muresanu gewissermaßen ausgesetzt. Bei jedem Ton, jeder Phrase, jedem Stück hat man den Eindruck: So und nur so muss es sein. Besser, intensiver, schöner und „richtiger“ geht es nicht – eine „fast magische Kommunikation […] des musikalischen Diskurses“, um es zum Schluss noch einmal mit der Komponistin Violeta Dinescu zu sagen.
Dr. Burkhard Schäfer [13.08.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Violeta Dinescu | ||
1 | Aretusa für Violine solo | 00:16:31 |
2 | Vista | 00:08:53 |
8 | Satya I | 00:06:48 |
9 | Il faudrait d'abord désespérer für Violine solo | 00:05:11 |
10 | Für Uli | |
11 | À chaque épée de lumière | 00:09:46 |
12 | Pour triompher du soleil | 00:08:48 |
13 | De-ale Lupului | 00:09:25 |
Interpreten der Einspielung
- Irina Muresanu (Violine)