cpo 777 397-2
1 CD • 70min • 2008
25.09.2009
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Das Oratorium Der aus der Löwengrube gerettete Daniel ist erst vor kurzem als Werk Georg Philipp Telemanns nachgewiesen worden; zwar zeigt das Stück deutlich Charakteristika der Handschrift Telemanns, doch wiesen die beiden überlieferten Abschriften das Werk als Komposition Georg Friedrich Händels aus. Im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Hamburg konnte mittlerweile nicht nur Telemanns Autorenschaft eindeutig erwiesen werden, es wurde auch der Hamburger Textdichter ausgemacht und die Uraufführung des Oratoriums in der Hamburger Kirche St. Petri konnte für den Michaelistag (29. September) des Jahres 1731 belegt werden.
Als dieses ungewöhnlich farbige und dramatische Werk während eines Gottesdienstes in einer Kirche erklang, waren Händels große Oratorien noch Zukunftsmusik. Und das gestrenge Auge der geistlichen Obrigkeit war in England wie in Deutschland wach: Wegen ihrer dramaturgischen Nähe zur als sündig geltenden Oper konnten Händels Oratorien, mit denen er seit 1739 das Herz des Publikums eroberte, nicht in Kirchen aufgeführt werden. Bei Telemanns Kollegen Johann Sebastian Bach in Leipzig wachte das streng lutherisch orthodoxe Konsistorium darüber, dass seine Kirchenmusik nicht „zu opernhafft herauskomme“, wie es im Anstellungsvertrag ausdrücklich heißt. Auch Telemanns kirchliche Vorgesetzte waren als orthodoxe Lutheraner dramatischen Experimenten in der Kirchenmusik eigentlich abgeneigt, doch stand der Hamburger Dom nicht unter der Autorität des Rats und des geistlichem Ministeriums der Hansestadt: Hier hatten Johann Mattheson und Reinhard Keiser, die Protagonisten der Oper am Gänsemarkt, das Oratorium seit 1715 zu beliebtesten Gattung der geistlichen Musik entwickelt. Offensichtlich hatte Telemann, der 1731 neben dem Amt des Städtischen Musikdirektors auch noch die Direktion der Oper am Gänsemarkt innehatte, ausreichend Rückhalt in der Hamburger Bürgerschaft, um das Wagnis einzugehen, den Gläubigen in einer Hamburger Hauptkirche eine dramatische Andachtsmusik zu bieten. Auf Andacht kam es damals freilich auch bei dramatischer Behandlung geistlicher Stoffe an, wie später noch Händels Unterhaltung mit Lord Kinnoull nach der Londoner Uraufführung des Messiah bewies: Als Seine Lordschaft sich für die gute Unterhaltung bedankte, antwortete der Komponist: My Lord, ich wäre betrübt, wenn ich die Zuhörer nur unterhalten hätte, ich wollte sie bessern.
Der Gottesdienst am Festtag des Erzengels Michael, für den Telemanns Oratorium Der aus der Löwengrube gerettete Daniel entstand, wurde in der Hansestadt für gewöhnlich mit einer Pracht gefeiert, wie sie sonst nur noch das Osterfest auszeichnete. Die Verbindung der Geschichte vom durch den Engel Gottes vor den Löwen geretteten Daniel mit der evangelischen Kirche wurde bereits vom Reformator Philipp Melanchthon gezogen, dessen Michaelslied Herr Gott, dich loben wir mit einer Strophe in Telemanns Oratorium eingegangen ist. Telemann verbindet für seine Michaelismusik die dramatische Gestaltung der Oper raffiniert mit der frommen Betrachtungsweise einer geistlichen Kantate: Mit den musikalischen Mitteln der Oper schildert er die emotional-affektiven Zustände der Personen seines geistlichen Dramas und führt die Handlung ihrem Kulminationspunkt zu. Die andachtsvolle Sphäre vertritt eine Gruppe allegorischer Figuren (der Mut, die Freude, das Vertrauen), die neben den handelnden Personen auftreten und das turbulente Geschehen von der höheren Warte der geistlichen Betrachtung aus kommentieren und so in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen.
Noch vor der offiziellen Einordnung des Werkes in das Telemann Werkverzeichnis präsentiert nun Michael Schneider das frisch rehabilitierte Oratorium auf CD. Die Vokalsolistenbesetzung fungiert in ihrer Gesamtheit auch als Chor. Schneider gestaltet das Werk auf angemessene Weise, der Spagat zwischen Dramatik und Betrachtung wird sehr schön deutlich. Über die Besetzung der führenden Rolle des Daniels wird an späterer Stelle zu reden sein; unter den übrigen Vokalsolisten sticht Ekkehard Abele heraus: Er gestaltet einen glaubhaften Großkönig Darius, der zwischen seinem Anspruch als Gottkönig und seiner Zuneigung zum jüdischen Propheten Daniel in den Zwiespalt gerät. Den nutzen seine Berater nur gar zu gern zur Durchsetzung des geltenden Rechts aus, nach dem Daniel sterben muss: Laurie Reviol leiht ihren Mezzosopran dem Arbace, der als Hauptankläger Daniels Darius mit seinen eigenen Gesetzen in Bedrängnis bringt. Der Rest der Vokalsolisten bleibt ihren marginalen Rollen entsprechend ein wenig blass und es ist nicht recht auszumachen, ob dies an den Sängern selbst liegt oder daran, dass sie von der Tontechnik gegenüber dem souverän agierenden Orchester in den Hintergrund gedrängt werden.
Kai Wessels stellt in der Rolle des Daniel das eigentliche Problem dieser Aufnahme dar: Mit 45 Jahren scheint er an den Grenzen seiner stimmlichen Kapazität angelangt zu sein. Zwar ist er technisch immer noch ein versierter Sänger, doch das Klanggewand seiner Stimme ist inzwischen löchrig und fadenscheinig geworden. Ein bis hin zu quiekenden Tönen forciertes Timbre soll darüber hinwegtäuschen, macht aber in Wirklichkeit den Gesang nur noch schwerer erträglich. Eine rollengerechte Interpretation des Propheten Daniel ist so nicht zu erreichen. Wäre ich unter diesen Umständen einer der Löwen in Daniels Grube gewesen, hätte kein Engel mir das Maul zusperren müssen – ich hätte ohnehin keinen Appetit gehabt.
Detmar Huchting [25.09.2009]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Georg Philipp Telemann | ||
1 | Der aus der Löwengrube errettete Daniel TWV deest (Ein Oratorium auf das Michaelisfest) |
Interpreten der Einspielung
- Annemei Blessing-Leyhausen (Sopran)
- Annegret Kleindopf (Sopran)
- Laurie Reviol (Mezzosopran)
- Kai Wessel (Altus)
- Julian Prégardien (Tenor)
- Jörn Lindemann (Tenor)
- Ekkehard Abele (Bass)
- Stephan Schreckenberger (Bass)
- La Stagione Frankfurt (Orchester)
- Michael Schneider (Dirigent)