cpo 777 349-
1 CD • 67min • 2007
12.06.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Wer Wagner, Schumann, Brahms und Mahler liebt, wird bei dem niederländischen Bartók- und Strawinsky-Zeitgenossen Jan van Gilse (1881-1944) sogleich auf seine Kosten kommen. Doch bitte keine voreiligen Schlüsse: Auch wenn die erste Sinfonie des Franz Wüllner- und Engelbert Humperdinck-Schülers wie ein epigonales Hämatom der spätromantischen Musikgeschichte klingt, so ist doch nicht zu leugnen, daß die Kreation, für die der damals gerade einmal Zwanzigjährige mit einem Preis des Bonner Beethovenhaus-Vereins ausgezeichnet wurde, eine recht markante Persönlichkeit erahnen läßt.
Dieser Eindruck bestätigt sich kurz darauf in der zweiten Sinfonie, die sich zwar erneut nach fremd-vertrauten Kirschen umsieht (was soll man mit ein- oder zweiundzwanzig auch schon tun?), dabei aber doch eine Menge feiner, zum Teil wirklich ergreifender Elemente enthäält – von dem liedhaften, feierlichen Hauptthema des Kopfsatzes über ein ganz subtiles, von großer Mahler-Verehrung kündendes und doch nicht etwa „heruntergeklempertes“ Scherzo bis hin zu dem fesselnden langsamen Finale ist dieser Musik wirklich gut zuzuhören.
Gleichwohl bleiben ohne tiefere Betrachtungen erhebliche Fragen nach der Interpretation der Musik und der Person. Vor allem hätte textlich ein schärferes Profil nötig getan als die bloße Auflistung der Lebensumstände und Verdienste um die niederländischen Autorenrechte und Musiklandschaft. Ganz besonders wäre auf den „Utrechtse Muziekoorlog“ einzugehen gewesen, diesen unselig-unsäglichen Musikkrieg aus Utrecht, der im Booklet gerademal mit einem Nebensatz abgefeiert wird. Gewiß, diese schaurige Angelegenheit ereignete sich in den Jahren zwischen 1917 und 1922, mithin lange nach den ersten Sinfonien, doch sie zeigt uns den wahren van Gilse, der ja schließlich als Charakter auch schon seine frühen Werke komponiert und um die Jahrhundertwende bereits erste Beweise seiner fanatischen Gerechtigkeitsliebe geliefert hatte.
Mit einer leicht masochistischen Ader, dabei aber immer für die Sache der Musik und vor allem für die Musiker des Städtischen Orchesters von Utrecht sich einsetzend, keinem noch so heftigen Problem aus dem Wege gehend, ließ er sich als Chef des bewußten U.S.O. auf Kämpfe ein, wie sie unschöner nicht zu denken sind (und selbstredend nirgends als im Lande meiner Väter vorkommen konnten): Ständig neue Knüppel zwischen den Beinen, immer neue Einfälle seitens einer selbstherrlichen Tivoli-Gesellschaft, die in peinlicher Besserwisserei unter anderem alles daransetzte, die Städtischen Konzerte gegen die Gastauftritte der sogenannten „Mengelberg-Konzerte“ auszuspielen – allein das hätte einem normalbesaiteten Menschen gereicht, um so schnell es geht die Segel zu streichen und über eine der zahllosen Grachten das Weite zu suchen.
Eine besonders miese, unappetitliche Rolle spielte in dem eh schon unschönen, keineswegs kunst- und musikdienlichen Szenarium der später so bekannt gewordene Komponist Willem Pijper (1894-1947), der seinerzeit noch als Kritiker des Utrechter Tageblatts und Benjamin im Corps der zeitgenössischen Tonkünstler alles daransetzte, den verhaßten Jan van Gilse zu erlegen. Nachdem Pijper sich wegen einer gescheiterten Premiere seiner eigenen ersten Sinfonie durch den dreizehn Jahre älteren „Kollegen” verladen und verraten sah, zeigte sich der Speichellecker plöötzlich und hartnäckig als häßliche kleine Giftschlange, die keine Möglichkeit und Unmöglichkeit ausließ, in geschliffenen Aperçus falsche Programmplanungen, idiotisch-rechthaberische Interpretationsvorwürfe und ganz direkte Beleidigungen zu verspritzen, bis der „Idealist en Strijder”, wie Hans van Dyck sein exzellentes Buch über Jan van Gilse betitelt hat, dann doch kapitulierte (van Dyck hat auch die opulent-kunstvollen Mémoires veröffentlicht, in denen van Gilse später mit jener Utrechter Zeit abgerechnet hat).
Daß die Affaire im aktuellen Booklet nicht so sehr aufgeblasen wurde, kann ich freilich verstehen: Pijper gilt als einer der großen niederländischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, und vermutlich denkt man sich, daß es besser wäre, ihn nicht als das Charakterschw... zu präsentieren, das er (nach unzähligen Zeugnissen, nicht nur denen des Hauptbetroffenen und seiner Ehefrau Ada) gewesen ist. Damit wird aber nolens volens von editorischer Seite aus der Gesamtpersönlichkeit des Herrn van Gilse eine ganz wesentliche Facette herauspräpariert, die schließlich zur Darstellung seiner Musik, gleich welcher Zeit, unbedingt erforderlich ist: Es genügt nicht, die Noten klangschön und unter Beachtung der Vorschriften spielen zu lassen, sondern es gilt, selbst die frühen Werke mit einem gewissen Fanatismus, einem ähnlich gewaltigen Enthusiasmus auszuführen, wie man das bei van Gilses Idol Gustav Mahler – und nicht nur bei diesem – tun sollte. Die Musik hat das Potential, zu fesseln und zu begeistern. Man berücksichtige dies, wenn der Idealist und Kämpfer Jan van Gilse seinen verdienten Platz in der „Muziekgeschiedenis" des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus wieder einnehmen soll.
Rasmus van Rijn [12.06.2008]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Jan van Gilse | ||
1 | Sinfonie Nr. 1 F-Dur | 00:33:34 |
5 | Sinfonie Nr. 2 Es-Dur | 00:33:11 |
Interpreten der Einspielung
- Netherlands Symphony Orchestra (Orchester)
- David Porcelijn (Dirigent)