Orthodox Singers Contemporary Sacred Music from Estonia
Troubadisc CD 01432
1 CD • 63min • 2008
24.06.2008
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Nicht nur in Russland, auch in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken, besonders aber im Baltikum, hat eine neue Religiosität Hochkonjunktur. Endlich – nun ja, genau genommen immerhin schon 17 Jahre nach dem Fall des Sowjetstaats – „darf" man sich wieder zur Religion bekennen, man kann wieder kirchlich heiraten und die Gottesdienste besuchen. Die Religion gehört also längst wieder zum Alltag der Menschen in Russland, im Baltikum und den Staaten der GUS.
Ich werde den Eindruck nicht los, dass man beim kleinen (aber durchaus feinen) Münchner Label Troubadisc die Zeichen der Zeit mit gehöriger Verspätung wahrgenommen hat und versucht, auf einen konjunkturellen Zug aufzuspringen, dessen Stern bereits wieder im Sinken begriffen ist. Anders kann ich mir die überaus merkwürdige Kompilation dieser CD nicht erklären.
„Orthodox Singers" – in großen Lettern – ein Bild mit hübsch auf „alt" kostümierten jungen Sängern nebst einer Glocke und dann der Untertitel „Contemporary Sacred Music from Estonia“: die auf dieser CD vereinten Komponisten sind allesamt estnischer Nationalität, darunter so prominente Namen wie Arvo Pärt und Veljo Tormis. Was aber, bitte, hat Estland mit russisch-orthodoxer Kirchenmusik gemein und umgekehrt russisch-orthodoxe Kirchenmusik mit estnischer Tradition? Die traditionelle Religion der Esten ist protestantisch (wie im überwiegenden Teil Skandinaviens) und – glaubt man den aktuellen Statistiken – so haben von den 70 Prozent Esten und den im Lande lebenden 30 Prozent ethnischer Russen viele auch heute mit der Religion nicht wirklich etwas am Hut.
Kurz, an was ich mich störe, ist die Mogelpackung, die mir Troubadisc hier serviert: Von den eingespielten sechs Werken hat einzig und allein eines – nämlich Tormis' Tower Bell in my Village in musikalischer Hinsicht einen estnischen Hintergrund (obschon die dem Werk zugrunde liegenden Originaltexte von einem portugiesischen Dichter stammen). Zu allem Unglück wird ausgerechnet dieses nicht in seiner estnischen Erstfassung, sondern in englischer Übersetzung (mit durchaus wahrnehmbarem Akzent in der Aussprache) gesungen. Andres Uibo als „berühmten Komponisten" zu bezeichnen, halte ich für etwas gewagt. Er ist weit bekannter als Organist denn als Tonschöpfer. Seine zehnminütigen Antiphonen jedenfalls sind nur wenig mehr als eine handwerklich ordentlich gemachte Stilkopie orthodoxer Kirchengesänge. Selbst Veljo Tormisí At the Crossroads von 1991 bedient sich altrussischer Texte und einer ebenso an die russische Orthodoxie gemahnenden Klangsprache, desgleichen die drei Werke Pärts. Das also ist „zeitgenössische Kirchenmusik aus Estland"? Vom kompositorischen und künstlerischen Gehalt sticht Tormis' Tower Bell klar heraus, ein durchaus originelles, herrlich gearbeitetes Werk. Auch sind die Orthodox Singers unter Leitung von Valery Petrov zweifelsohne ein Chorensemble von Rang. Das Beiheft ist sorgfältig ediert und informativ, der Klang manchmal vielleicht etwas zu diffus und zu hallig. Dennoch hinterlässt leider diese merkwürdig inkonsistente Programmzusammenstellung alles in allem den Beigeschmack eines Etikettenschwindels. Sich seitens des Labels allein auf den Klang zweier prominenter Namen zu verlassen (die dann zum Großteil genuin russische Musik beisteuern) ist einfach eine schwächliche Basis. Schade um die vertane Chance, wirklich estnische Musik der Gegenwart zu propagieren.
Heinz Braun † [24.06.2008]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Andres Uibo | ||
1 | Antiphons | 00:10:43 |
Veljo Tormis | ||
2 | At the Crossroads | 00:09:27 |
3 | Tower Bell in my Village | 00:14:29 |
Arvo Pärt | ||
4 | Kontakion | 00:03:32 |
5 | Ode VI | 00:10:12 |
6 | Prayer after the Canon | 00:14:15 |
Interpreten der Einspielung
- Orthodox Singers (Chor)
- Valery Petrov (Dirigent)