Friedrich Gernsheim
Violin Concertos
cpo 777 861-2
1 CD • 62min • 2013
24.11.2015
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Es war sicher nicht zum Vorteil von Friedrich Gernsheims (1839-1916) Musik, dass er als Jude sofort auf der schwarzen Liste der Nationalsozialisten landete, zumal, wie der sehr fein geschriebene und klug informierende Booklettext von Jens Laurson wissen lässt, bis dahin Georg Kulenkampff – der große im Reich verbliebene Geiger, der dann das Schumann-Violinkonzert uraufführte – sein Zweites Violinkonzert im Repertoire führte. Dieses Zweite Violinkonzert in F-Dur op. 86, entstanden 1912 als Werk eines 73jährigen abgeklärten Meisters, ist auch das wertvollste Werk dieser Ersteinspielung. Zu jenem Zeitpunkt hatte bereits das gigantisch verschlungene Violinkonzert Max Regers Furore gemacht, und in Paris zerzauste Strawinskys Petrouchka respektlos und unwiederbringlich die Rockzipfel der ehrwürdigen Tradition. All diesen Neuerungsbestrebungen steht Gernsheims Werk denkbar fern. Der Wormser Meister war nie ein Revolutionär gewesen, sondern ist ehestens als Brahmine zu bezeichnen. Bei Arte Nova sind vor vielen Jahren seine vier Symphonien erschienen, bei Sterling vor wenigen Jahren der großartige symphonische Satz ‚Zu einem Drama’. All diese Kompositionen belegen konstant eine erstrangige Erscheinung in handwerklicher (was zu jener Zeit nicht verwundert) und in schöpferischer Hinsicht. Gewiss, Gernsheim klingt immer wieder mehr oder weniger auch nach Brahms, und er verfügte auch nicht über dessen gewaltigen Genius. Doch ist er – als fast exakter Zeitgenosse – eher als verwandte Seele zu bezeichnen denn als Epigone. Zu lebendig, zu innig, zu wendig ist diese Musik, um einfach nur auf den Bahnen eines anderen zu wandeln, mit dem sich ihre Bahn zwangsläufig regelmäßig kreuzt. Als Dirigent, der unter anderem vom Komponisten sehr geschätzte Aufführungen des Deutschen Requiems von Brahms leitete, verstand Gernsheim auch genug vom Orchester, um dieses besser klingen zu lassen als sein Vorbild.
Auch die beiden Violinkonzerte und das ihnen 1876 vorangehende Konzertstück op. 33 sind sehr lohnende Entdeckungen. Schon im Konzertstück steckt meines Erachtens mehr Substanz als in den meisten konzertanten Werken Max Bruchs, und über Mangel an blühender Schönheit kann sich hier ohnehin niemand beklagen. Das halbstündige Erste Violinkonzert in D-Dur op. 42 entstand im Sommer 1879 in Rotterdam, wo Gernsheim 1874-80 lebte und Direktor des Konservatoriums war. Im mächtigen Kopfsatz, der fast die Hälfte des Werkes einnimmt und eine große vom Komponisten verfasste Solokadenz aufweist, steht Brahms schon zu Beginn in der großzügig einfachen, innig hymnischen Entwicklung Pate, die besonderes Feingefühl für die modulatorischen Verzweigungen verlangt. Das im Jahr zuvor vollendete Violinkonzert von Brahms kannte er damals freilich noch nicht, aber es klingt schon so, dass man sich vorstellen könnte, Joseph Joachims Spiel hätte ihn beeinflusst. Doch war Gernsheim, wie zeitweise auch Bruch, mehr der äußerlichen Virtuosität August Wilhelmjs, ja sogar Pablo de Sarasates zugeneigt, was auch aus dem sehr anspruchsvollen Passagenwerk zu uns spricht. Ja, dieses Konzert ist anspruchsvoll auch für heutige Virtuosen! Auch der durchaus schwelgerische Andante affettuoso-Mittelsatz in fis-moll geht teilweise ins frei Melismatische über, mit einer fast kapriziösen kurzen Solokadenz kurz vor dem zarten Ende. Wenn es damals hieß, Gernsheims Musik sei „zwischen Brahms und Synagoge“ angesiedelt (sie ist der Synagoge allerdings dann doch ferner geblieben als diejenige des ein Jahr zuvor geborenen Max Bruch), so mag dieser Satz als Beleg ins Feld geführt worden sein. Das Finale kommt umso kecker und auftrumpfender daher, und in der Coda ergibt sich ohne Beschleunigung des Pulses ein natürliches Stretto einfach dadurch, dass der Schalter von duolischer auf triolische Bewegung umgelegt wird.
Der Gipfel wird, wie schon gesagt, mit dem viel knapper komponierten Zweiten Violinkonzert bestiegen, dessen drei Sätze ohne Unterbrechung aneinander anknüpfen. Was für ein herrlicher langsamer Satz, und der Ton ist ohne jegliche erkennbare Ambition auch viel persönlicher geworden. Ab 1890 lebte Gernsheim in Berlin, wo er am Stern’schen Konservatorium lehrte. Er galt, und dem kann man beim Anhören dieses wunderbaren Konzerts nur beipflichten, als führender Kopf der sogenannten ‚Berliner Akademiker’, also jener stockkonservativen Clique, die vor allem damit beschäftigt war, jegliche Weiterentwicklung im Keim zu ersticken – ja, Gernsheim war ein viel potenterer, originellerer, vitalerer Komponist als Kiel, Herzogenberg oder Friedrich Ernst Koch, auch als Ernst Rudorff, und zweifelsohne auch anspruchsvoller als Max Bruch! Dieses Zweite Violinkonzert kann jedem Geiger guten Gewissens als Ergänzung zu seinem Repertoire empfohlen werden, und Linus Roth ist es zu danken, dass jetzt eine weitere Verbreitung beginnen kann.
Zur Aufführung: Linus Roth ist den hohen Anforderungen technisch gewachsen, seine Intonation ist fast durchweg lupenrein, durch technische Hürden bedingte Rubati kommen kaum vor. Gestalterisch habe ich den Eindruck, er hätte sich vorgenommen, die Musik nicht zu romantisch darzubieten, er spielt fast mit einem puristisch sauberen Verständnis, und auch mit einem gewissen Grundimpuls elektrischer Aufgeladenheit, und in dieser Auffassung besteht nach meinem Dafürhalten ein Missverständnis. Wie bei Bruch lässt sich eine romantischere Musik kaum denken, was natürlich nicht heißt, man dürfe sich einfach willkürliche ‚Freiheiten’ erlauben, aber es gibt doch sehr viel agogischen Freiraum, der sich wie von selbst aus der energetischen Beschaffenheit der Melodie und auch der Harmonie ergibt – wenn man spürt und weiß, wie die Dinge ‚im Innersten’ zusammenhängen. Roths Auffassung erscheint mir spröder als erforderlich, und ich meine damit nicht eine sentimentale oder schmalzige Einstellung als zweifellos unangebrachten Gegenentwurf – ich möchte nur einmal zu bedenken geben, wie, mit welcher bewussten Fragilität, schwärmerischen Tiefe und Sanglichkeit vielleicht ein Kreisler oder Adolf Busch diese Konzerte gespielt hätten. Aber als Entdecker und aufstrebender Virtuose kann man gewiss das Recht beanspruchen, stilistisch noch auf der Suche zu sein. Allerdings ist auch zu bedenken, dass eine gewisse tonliche Schärfe und Unangepasstheit gegenüber dem Orchester auch darauf zurückzuführen ist, dass der Solist viel direkter, naher aufgenommen ist als seine Begleiter. Im Konzert klingt das alles ganz anders. Der genannten Einschränkungen eingedenk verrichtet Linus Roth mit seiner ernsthaften, possenfreien Einstellung eine respektgebietende Arbeit. Die Hamburger Symphoniker unter Johannes Zurl stehen nicht zurück, oftmals gerät das Forte zu scharf oder auch zu massiv, und beim Aushören der Modulationen und größeren Entwicklungszügen, auch bei der sinnträchtigen Belebung des Kontrapunkts, ist gewiss eine bewusstere Gestaltung möglich. Das wäre natürlich bei bekannteren Werken weitgehend anders.
Christoph Schlüren [24.11.2015]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
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CD/SACD 1 | ||
Friedrich Gernsheim | ||
1 | Konzert Nr. 1 D-Dur op. 42 für Violine und Orchester | 00:30:00 |
4 | Fantasiestück D-Dur op. 33 für Violine und Orchester | 00:09:57 |
5 | Konzert Nr. 2 F-Dur op. 86 für Violine und Orchester | 00:21:59 |
Interpreten der Einspielung
- Linus Roth (Violine)
- Hamburger Symphoniker (Orchester)
- Johannes Zurl (Dirigent)