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Besprechung CD

BIS 1586

1 CD • 67min • 2003, 2006

15.12.2009

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Wenn mich mal jemand fragen sollte, ob ich ein Rezept zur unblutig-schleichenden Bezwingung einer Kultur oder Zivilisation hätte, dann wüßte ich schon was: Die Kunst im allgemeinen und die Musik im besonderen, als subversive Waffe eingesetzt – sie brächte im Verbund mit einer zielgerichteten, unablässigen Verfälschung sämtlicher ethischen und moralischen Werte ganz unbedingt den gewünschten Erfolg. Einzuspeisen wären zu diesem Ende vor allem blinder Fortschrittsglaube, hemmungsloses Wettbewerbsdenken und absolute Originalitätssucht, die man dann nach einem nie ganz enthüllten Prinzip mit unterschiedlich wertvollen Preisen zu belohnen hätte, wobei als wesentliches Kriterium eine möglichst große Publikumsferne anzunehmen wäre – bis eines Tages selbst wohlmeinendste Kunstfreude unter arte nur noch das gastritische Lächeln der ebendort abgebildeten Pausenfiguren („neugierig leben – vivons curieux“) verständen und sich mit Grausen abwendeten.

Dann aber, just in diesem Moment des völligen Zerfalls, wo das Häßliche endgültig zu triumphieren scheint, da kommen sie, die lichten Kohorten der neuen Pracht und Herrlichkeit, systematisch hochausgebildete Artisten, die nach dem Zusammenbruch wieder mit Tonalität, Verständlichkeit und Emotionen winken, die Menschen je nach Bedarf in Jubel- oder Grabesstimmungen beförderten und, damit auch niemand zweifle, von kompetenten „Vorjublern“ ausreichend in ihrer hohen Wertigkeit gefeiert würden. Die Mission wäre erfüllt und zugleich ein kolossales Geschäft in Aussicht gestellt – lieber flimmerndes Talmi als gar nichts zu lachen ...

Das ist freilich die reine Erfindung. Denn erstens fragt mich ohnehin niemand, zweitens wäre eine Plan wie der obige nichts als „Artistic Fiction“, und drittens schließlich besteht zwischen solch einem Hirngespinst und der hier vorliegenden Produktion des eben sechzig Jahre alt gewordenen Amerikaners Christopher Rouse nicht der mindeste Zusammenhang. Einer Produktion übrigens, die – soviel gleich vorweg – unter aufführungspraktischen Gesichtspunkten untadelig ist. Sharon Bezaly zeigt sich mit ihren Flötentönen von der allerbesten Seite, ob sie nun gerade in den ergötzlich gedachten Kantilenen schwelgt oder mit äußerster Behendigkeit über die gezackten Gipfel ihrer Allegro-Partien hüpft. Und wenn mir auch die interpretatorischen Vergleiche fehlen, so möchte ich doch darauf wetten, daß Alan Gilbert am Pulte der Königlichen Philharmoniker aus Stockholm eine ähnlich gute Vorstellung abliefert wie bei der Aufnahme der neunten Sinfonie von Gustav Mahler, der ich kürzlich mit Vergnügen eine „10“ verleihen durfte.

Warum Gilbert sich mit Christopher Rouse befaßt, will mir indes nicht recht einleuchten, denn Christoph Eschenbach hat mit dem Houston Symphony Orchestra bereits die zweite Sinfonie und das Flötenkonzert aufgenommen, während das dritte der bei BIS versammelten Stücke – der allerdings recht stringente und mitreißende Einsätzer Rapture – auch bei Ondine zu haben ist (dort mit Leif Segerstam und den Philharmonikern von Helsinki). Vielleicht sieht Gilbert ja einen direkten Bezug zwischen Mahler und Rouse, der sicherlich in wenigstens einem Punkte auch existiert: Der Amerikaner hat ganz ohne Frage seine historischen Lektionen gelernt und nutzt diese Kenntnisse zu einer virtuosen Kombination heterogener Elemente, gegen die sogar Alfred Schnittkes polystilistisches Kaleidoskop eine Umkleidekabine ist.

Während nun aber Gustav Mahler seine Wunderwerke eben nicht „montierte“, sondern trotz der Bandbreite vom Banalen bis zum höchst Artifiziellen immer sich selbst ausdrückte und seine Welten stets mit der organischen Kraft der großen Persönlichkeit formte, spürt man bei Rouse schnell die jeweilige Absicht und ist verstimmt. Die konkreten „Gebrauchsanweisungen“ sind dabei ebensowenig vonnöten wie die Generallinie, wonach er sich im Laufe der Zeit mit den verschiedenen menschlichen Schwerpunktthemen (à la „Liebe, Tod und Teufel“) befaßt habe: Bald werden wir bemerken, wie er uns immer wieder mit außerordentlichen Schönklängen einlullt, um anschließend, wenn wir uns gerade zu „fühlen“ beginnen, mit der kakophonischen Dampframme zu traktieren. Diese Klüfte zwischen Schwarz und Weiß sind zu offenkundig und zu gewollt – und das sind auch die Abenteuer, die das Leitthema der zweiten Sinfonie zu bestehen hat: Was fatal wie der Hauptgedanke aus dem Kopfsatz der fünften Schostakowitsch-Sinfonie klingt, wird hier nach allen Regeln der modernen Kunst durch den Wolf gedreht, mal bezirzt und umgarnt, mal bei der Gurgel genommen, kräftig geschüttelt, ohne daß es rührte, und am Ende über eine Episode geführt, die mich nun wieder ans Finale der fünften Sinfonie von Hans Werner Henze erinnerte – was wiederum nicht schlimm wäre, da es sich dabei um ein äußerst schönes Werk handelt: Doch der fürchterliche Verdacht, es könnte die eingangs entworfene Fiktion gar keine Utopie sein, will nach mehrfacher Anhörung dieser neuen CD nicht mehr verstummen.

Immerhin, die Qualität des Dokuments an sich ist, wie schon angedeutet, einwandfrei. Und wer gern einmal eine Wanderung durch ein historisches Museum für Trümmer aus Geschichte und Gegenwart unternimmt, kommt auf seine Kosten.

Rasmus van Rijn [15.12.2009]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Christopher Rouse
1Concerto 00:27:56
6Symphony No. 2 00:26:13
9Rapture (Verzückung, 2000) 00:11:22

Interpreten der Einspielung

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