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Besprechung CD/SACD stereo/surround

Max Reger

Organ Works Vol. 7

cpo 555 229-2

2 CD/SACD stereo/surround • 2h 09min • 2019

12.08.2021

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 7

Für die siebte Folge seiner Reger-Gesamteinspielung wählte Gerhard Weinberger die hermetischen Variationen op. 73, die zwei Fantasien und Fugen op. 29 und 135b (beide Richard Strauss gewidmet!), vier der vermeintlich „leicht ausführbaren Präludien und Fugen“ op. 56 und eine Auswahl aus den Choralvorspielen op. 79b. Regers Variationen und Fuge entstanden auf Anregung von Karl Straube, der ein Konzertwerk ohne protestantische Choräle für Auftritte in katholischen Gegenden benötigte. Er schuf damit wohl sein technisch und konzentrationsmäßig – minimale Spieldauer 30‘ – anspruchsvollstes Orgelwerk, welches den Ersthörer im Zustand einer „inszenierten Desorientierung“ (Chr. Bossert) zurücklässt. Ursächlich hierfür ist, dass Reger die ausgedehnte Introduktion, die in etwa so viel Zeit wie die Schlussfuge benötig, im Titel unterschlägt und somit den Hörer ein Triptychon à la César Franck (Prélude, Variations/Choral et Fugue) gar nicht erst erwarten lässt. Dabei ist die Idee der exzentrischen Einleitung keinesfalls neu. Wir finden sie bereits bei Beethoven (Eroica-Variationen mit den blanken Basstönen zur anfänglichen Hörerirritation), Schubert (Trockne Blumen-Variationen für Flöte) und zu Beginn vieler Paraphrasen über bekannte Themen (Liszt!).

Avantgarde von 1904

Regers Introduktion hat es jedoch in sich: Sechs, sieben Minuten Vagieren durch sämtliche Tonarten des Quintenzirkels, ohne dass je einmal ein Akkord in Grundstellung erreicht würde, trugschlüssige Effekte, die nur in den nächsten Trugschluss führen und das alles auf der Basis alterierter Akkorde. Das ist moderner als Salome, Ravels Jeux d’eau oder Skrjabins 4. und 5. Sonate und übertrifft alles, was vor 1904 geschrieben wurde. Die abrupten Stimmungsschwankungen zwischen Resignation und Tobsucht machen diese Introduktion zum ersten Werk des musikalischen Expressionismus. Das Originalthema hat den Charakter eines traurigen Wiegenliedes oder Sicilianos und an seinem Ende – heureka! – die erste Vollkadenz. Die 14 – ursprünglich wie bei Beethoven 15 – Variationen nehmen die Charaktere (traurig=themennah, tobend=stark figuriert bis zur Verzerrung) der Introduktion wieder auf. Da sich einige Variationen als Ruhepunkte sehr nah ans Thema anschließen, entsteht eine fast rondoartige Struktur. Die Spannung löst sich schließlich in der trotz Moll und Chromatik trotzig-beschwingten Fuge. Dass das Werk so selten im Konzert erklingt, liegt an dreierlei: den mörderischen technisch-musikalischen Anforderungen, einer gewissen Sperrigkeit und der abschreckenden Notation, die Tempowechsel sowohl verbal wie auch in den Notenwerten anzeigt, was dann zu Vivacissimo mit 64-tel-Triolen führt.

Leichtere Hörkost bieten op. 29 – eine romantische Variante der g-moll Fantasie und Fuge von Bach –, die Choralbearbeitungen, bei denen man gelegentlich nach dem Cantus firmus sucht, da die Registrierungen hier nicht optimal gewählt wurden und die vier Werke aus op. 56, die übrigens nach den Variationen entstanden. Die Fachwelt rätselt immer noch, was an diesen Präludien und Fugen leicht ausführbar sein soll. Der reine Notentext bewegt sich auf dem Schwierigkeitsgrad der mittelschweren „Bäche“, allerdings muss bei Reger ein Fuß immer in Bereitschaft sein, den Schwelltritt oder das Registercrescendo per Walze zu betätigen und die Harmonik ist entsprechend komplizierter.

Richtig dick kommt es für den Interpreten dann abschließend mit der letzten repräsentativen Orgelkomposition des Meisters, der Phantasie und Fuge op. 135b. Hier zeigt Reger, wie er „in Fugen denkt“, mit einer Doppelfuge, die beide Themen sowohl in der Urgestalt wie auch in der Umkehrung durch- und engführt. Knapp 12‘ permanente Steigerung vom Molto sostenuto pppp zur 9-stimmigen Dur-Apotheose im ffff mit Doppelpedal erfordern Übersicht und immense Kräfte.

Mut zur Langsamkeit

Mit fast 40‘ legt Günter Weinberger die wohl langsamste Fassung der Variationen vor. Der Straube-Schüler Heinz Wunderlich benötigt mit 32‘ ein knappes Drittel weniger Zeit, was mich mehr überzeugt, zumal bei ihm auch die Relation der Notenwerte untereinander besser getroffen scheint. Allerdings steht ihm nicht die feinst modellierbare Klangpalette der Orgel der Mannheimer Christuskirche zur Verfügung, so dass sich weniger Registrierpausen ergeben. Weinberger verliert sich häufig in Details und darüber den großen Bogen. Auch zerfallen ihm melodische Linien zu oft in Einzeltöne, so dass der Spannungsaufbau darunter leidet. Im Ganzen also eine mehr solide als begeisternde Interpretation, die zudem durch die Aufnahmetechnik beeinträchtigt wird.

Nur für Einzelhausbewohner mit potenter Anlage

Positiv ausgedrückt: Die Aufnahmetechnik bildet das dynamische Potential und den Farbreichtum der beiden spätromantischen Orgeln höchst realistisch ab. Dafür könnte man, so es praktikabel wäre, durchaus die „10“ ziehen. Aber Vorsicht: Das mag in 100 m²-Wohnhallen auf parkähnlichen Grundstücken und auf High-End riesig Freude machen, wird bei „Normalverbrauchers“ aber eher zum Ärgernis. Wenn ich, um an den pppp-Stellen mehr als nur die Traktur zu hören, den Lautstärkeregler auf 4 Uhr (SACD) bzw. 1 Uhr (CD) stellen muss, treibe ich im „Organo pleno“ Boxen und Verstärker ins Clipping, mich an den Rand des Tinnitus und muss außerdem befürchten, dass die Nachbarn eine Polizeistreife vorbeischicken. Weiterhin wären separate Tracknummern für die Introduktion und die einzelnen Variationen in op. 73 eine sinnvolle Hörhilfe gewesen. Zumindest hätte man im Booklet mit mm:ss-Angaben und einem analytischeren Kommentar à la Bert Hagels auf die Struktur hinweisen können.

Fazit: Eine solide Einspielung, die jedoch keinen Ersatz für die aktuelle Referenz von Bernhard Buttmann darstellt. Allerdings ein für Messen äußerst geeignetes Demonstrationsobjekt, so die Musik die Technikfreaks mit Faible für Poppigeres nicht abschreckt.

Vergleichsaufnahmen: Heinz Wunderlich (Pan Classics), Bernhard Buttmann (Oehms Classics).

Thomas Baack [12.08.2021]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Max Reger
1Variationen und Fuge über ein eigenes Thema fis-Moll op. 73 00:39:08
3Präludium und Fuge E-Dur op. 56 Nr. 1 (Richard Baumgart zu eigen) 00:10:37
5Präludium und Fuge G-Dur op. 56 Nr. 3 (Richard Baumgart zu eigen) 00:13:07
CD/SACD 2
1Phantasie und Fuge c-Moll op. 29 (Herrn Richard Strauss verehrungsvoll zugeeignet) 00:15:11
3Präludium und Fuge d-Moll op. 56 Nr. 2 (Richard Baumgart zu eigen) 00:07:18
5Ach Gott, verlass mich nicht op. 79b Nr. 1 (Choralvorspiel) 00:02:14
6Herr, nun selbst den Wagen halt op. 79b Nr. 3 (Choralvorspiel) 00:01:27
7Christ ist erstanden op. 79b Nr. 8 (Choralvorspiel) 00:01:23
8Christus der ist mein Leben op. 79b Nr. 9 (Choralvorspiel) 00:01:45
9Nun danket alle Gott op. 79b Nr. 11 (Choralvorspiel) 00:01:55
10Präludium und Fuge h-Moll op. 56 Nr. 5 (Richard Baumgart zu eigen) 00:12:39
12Phantasie und Fuge d-Moll op. 135b (Meister Richard Strauss in besonderer Verehrung) 00:21:37

Interpreten der Einspielung

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