IV•XXI
[IN MEMORIAM]
Yi Lin Jiang
Anclef 20210421
1 CD • 62min • 2021
01.08.2021
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Die unfreiwillige Muße durch die nicht vorhandenen Auftrittsmöglichkeiten während der Pandemie hat viele CD-Produktionen in bis dahin kaum gekannter Ruhe reifen lassen – bei aller Tragik der Zeitumstände liefern sie eine durchaus überfällige Antithese zum sonstigen atemlosen Tempo des heutigen Musikmarktes. Der Pianist Yi Lin Jiang hat in diesem Geist sein neues, eigenes Label Anclef gegründet – und liefert mit seiner zweiten CD eine in sich ruhende, von Innigkeit getragene Produktion ab. Es geht um Kompositionen, die in tief menschlichen psychologischen Bezügen zueinander stehen, denn auch ihre Urheber sind aufs tiefste gefühlsmäßig miteinander verbunden: Robert und Clara Schumann und ihr lebenslanger enger Freund Johannes Brahms. Die drei haben in ihren Kompositionen ihre Gefühle zueinander verarbeitet, ihre Schöpfungen gegenseitig „beantwortet“ oder in höchster Wertschätzung weiter gedacht.
Feinsinnig gewebte Psychogramme
Diesen Aspekt demonstriert Yi Lin Jiang durch die getroffene Werkauswahl der CD – mehr noch, durch die eigene reflektierende, dabei aber nie effekthaschende pianistische Lesart: Johannes Brahms Variationen über ein eigenes Thema verarbeiten die Gefühle nach dem Tod Robert Schumanns. Seine Intermezzi drücken so manche unterdrückte Sehnsucht nach der von ihm innig verehrten Clara Schumann aus – ein zentrales Thema auch für den abschließenden Variationenzyklus über ein Thema von Robert Schumann, diesmal zu vier Händen. Clara Schumanns Variationen über Lieder und Gesänge ihres früh verstorbenen Ehemanns sind eine späte Verarbeitung dieses persönlichen Verlustes. Robert Schumanns Geistervariationen lassen die beginnende schwere psychische Erkrankung ihres Urhebers erahnen.
So spannend und aufschlussreich es gerade im Fall dieser wohl berühmtesten Dreierkonstellation der Musikgeschichte ist, sich die biografischen Hintergründe klar zu machen, so wenige Worte braucht das, was hier zu hören, zu erleben und nachzuempfinden ist. Denn Yi Lin Jiang und sein italienischer Partner Jacopo Giovannini dringen tief in die Gefühlswelten ein und erzeugen damit ein bemerkenswert in sich ruhendes Ganzes. Yi Lin Jiang musiziert diese klingenden Psychogramme mit viel Sensibilität – voller wohldosierten Details und subtiler Akzentuierung und mit feinen, sich nie aufdrängenden Spannungsmomenten, die keine kraftmeierischen Ausbrüche benötigen, um sich beredt zu artikulieren. Entsprechend homogen fühlt sich beim vierhändigen Spiel der italienische Pianist Jacopo Giovannini ein – auch er hat sich in jedem Moment mit fabelhafter Anschlagspräzision diesem vielschichtigen Programm verschrieben, das dem Hörenden so manches Innehalten in unserer hektischen lauten Außenwelt verspricht.
Musik hilft, Krisen zu überwinden
Yi Lin Jiang studierte unter anderem bei Karl Heinz Kämmerling, später bei Ewa Kupiec und lehrt heute selbst an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Sein Vorhaben einer Labslgründung wurde von der Stiftung Neustart-Kultur des deutschen Musikrates gefördert. In den Linernotes liefert er die Auflösung des etwas kryptischen Titels für diese CD: Das römische Ziffernpaar IV-XXI markiert einen für ihn bedeutsamen biografischen Wendepunkt in seinem Leben. Es war das Datum des Abschiednehmens von seiner Mutter, deren Verlust ihn in eine schwere persönliche Krise stürzte. Die Musik hat ihm letztlich Kraft gegeben, gestärkt daraus hervor zu gehen, wofür eben gerade dieses zweite Album seines Labels stehen soll. Die eigene Geschichte ist also bei dieser Produktion ein weiterer Handlungsstrang neben dem musikalichen Dialog zwischen Robert und Clara Schumann und Johannes Brahms.
Stefan Pieper [01.08.2021]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johannes Brahms | ||
1 | Variationen über ein eigenes Thema op. 21 Nr. 1 | |
2 | Intermezzo Es-Dur op. 117 Nr. 1 | |
3 | Intermezzo b-Moll op. 117 Nr. 2 | |
4 | Intermezzo cis-Moll op. 117 Nr. 3 | |
Clara Schumann | ||
5 | In der Ferne (Robert Schumann-Liedtranskription) | |
6 | Mit Myrten und Rosen (Robert Schumann-Liedtranskription) | |
7 | Mondnacht (Robert Schumann-Liedtranskription) | |
8 | Widmung (Robert Schumann-Liedtranskription) | |
9 | Dein Angesicht (Robert Schumann-Liedtranskription) | |
Robert Schumann | ||
10 | Variation V Ein letzter Gedanke aus Variationen über ein eigenes Thema (Geistervariationen) WoO 24 | |
Johannes Brahms | ||
11 | Variationen über ein Thema von R. Schumann Es-Dur op. 23 |
Interpreten der Einspielung
- Yi Lin Jiang (Klavier)
- Jacopo Giovannini (Klavier)