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Besprechung CD

Charles Chaplin Modern Times

The Complete Film Music

cpo 777 286-2

1 CD • 80min • 2007

29.07.2015

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 10
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

Klassik Heute
Empfehlung

Längst beschäftigt sich die Musikwissenschaft sowie eine entsprechend fundierte Praxis auch mit Phänomenen, die nicht zur Kunstmusik gehören oder aber an ihren Rändern stattfinden. Interessanter als die Forschung zur Pop-Musik ist hierbei diejenige zur Filmmusik, weil deren Komponisten sich einerseits an der klassischen Kunstmusik bedienen – oft auch unverschämt –, andererseits aber deren Stile oft sehr sicher beherrschen, weil sie in ihr ausgebildet wurden. Der Amerikaner Timothy Brock, Dirigent und Komponist, arbeitet auch musikphilologisch, er hat etwa bislang nicht weniger als zwölf größere Stummfilm-Musiken Charles Chaplins rekonstruiert und restauriert. Mit diesem Album legt er die vollständige Musik zu Chaplins Klassiker „Modern Times“ von 1936 vor, die Chaplin selbst, allerdings mit der Unterstützung der professionellen Musiker Alfred Newman, Edward Powell und dem jungen David Raksin, verfertigt hatte.

Dies ist eine philologische wie repertoirepolitische Großtat Brocks, wird doch damit eine mit 80 Minuten sehr ausführliche Partitur greifbar (der Film selbst dauert etwa 87 Minuten, er ist damit fast vollständig begleitet) und in bester Klangqualität vorgelegt. Zwar ist dies nicht die erste Aufnahme mit Musik aus dem Film, Carl Davis und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin etwa hatten bereits 1995 Ausschnitte vorgelegt (RCA), doch die Genauigkeit dieser Rekonstruktion, die in einem vorbildlichen Beiheft dokumentiert ist, ebenso wie Timothy Brocks Expertise auf dem Gebiet der frühen Filmmusik ist bislang wohl einzigartig. Sie erstreckt sich sogar auf das typisch starke, hupenartige Vibrato der Blechbläser in der Fanfare, die als Signum der unwirtlichen Moderne im Verlauf des Films wie der Partitur geradezu leitmotivischen Charakter erhält. Als Dirigent hat Brock es vermocht, der bestens aufgelegten NDR Radiophilharmonie die Schönheiten der Musik nahezubringen. Man höre etwa, wie idiomatisch die Musiker in dem längeren Abschnitt „Lunchtime – Charlie´s Breakdown – Worker´s Rally“ spielen, wie köstlich leicht Oboe und Schlagzeug hier zusammentreten. In der längeren Passage „Tragedy at the Demonstration – Out of Jail, Out of Job – Chance Meeting“ erscheinen noble Streicher und in „Mechanic´s Assistant – Lunch Break – On Strike – Gamin´s Dance Sequence“ erfreut eine knackige Kontrabaßklarinette. Und das Thema, das später zum Song „Smile“ wurde, ist einfach wunderschön.

Tatsächlich sieht man in diesen Momenten den Film vor sich – und wenn man ihn nicht kennen würde, könnte man an ein Ballett aus den 1930er Jahren denken, nicht ganz so elaboriert wie diejenigen Strawinskys, Bartóks oder Roussels, aber doch genügend raffiniert. Wieviel dabei auf Chaplin selbst zurückging, der kaum mehr als ein „Pfeifkomponist“ war, also nicht einmal Noten lesen konnte, und wieviel er seinen Assistenten zu verdanken hatte, das ist aus moderner Sicht eher unerheblich, solange man den funktionalen, nämlich filmmusikalischen Kontext anerkennt. Der Musiker Chaplin, der immer Autodidakt blieb, wirkt nämlich wie ein Vorläufer des hemmungslosen Eklektizismus´ etwa eines Quentin Tarantinos, der von music hall über Gershwin alles zitiert, was in seinem Bewußtseinsstrom vorkommt, und was er für seine filmischen Intentionen für hilfreich erachtet. Anders gesagt, die Gestik der Musik zeigt, wie musikalisch Chaplin stets die filmischen Bewegungen des slapsticks, des Tanzes, der Mimik aufgefaßt hatte. Damit sagt die Musik sehr viel über Chaplin aus und fördert das Verständnis dieser ikonischen Figur.

Es sei nicht verschwiegen, dass sich die gesamte Partitur bei allen Meriten nicht zum integralen Genuß eignet. Das liegt am letztlich doch statischen Material, das kaum einmal Variationen oder gar Verarbeitungen unterworfen wird, vor allem aber den vielen Redundanzen, die im Film nicht stören, aber beim bloßen Hören doch auffallen: In der Passage „Tragedy at the Demonstration ...“ ermüden die endlosen Wiederholungen, zumal sie ja in der Szenenfolge „The Next Morning ...“ wieder aufgenommen werden. Hier tritt die Grenze zwischen Kunstmusik und funktionaler Musik deutlich zutage. Der positive Gesamteindrucks dieser Produktion wird dadurch nicht getrübt, im Gegenteil: werden doch Vorzüge wie Grenzen dieser Musik und damit der Filmmusik generell auf faszinierende Weise deutlich gemacht.

Prof. Michael B. Weiß [29.07.2015]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Charles Chaplin
1Modern Times 01:19:49

Interpreten der Einspielung

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