Anzeige

Teilen auf Facebook RSS-Feed Klassik Heute
Klassik Heute - Ihr Klassik-Portal im Internet

CD • SACD • DVD-Audio • DVD Video

Besprechung CD

Viktor Ullmann

The Complete Works for Piano Solo

BIS 2116

2 CD • 2h 05min • 2010, 2012

11.09.2014

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 10
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

Seit Konrad Richter die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf Viktor Ullmann lenkte und auch Ersteinspielung und, dies am allerwichtigsten, die erste kritische Edition sämtlicher sieben Klaviersonaten Ullmanns besorgte, erfreut sich dieses Œuvre eines – nach jahrzehntelangem Vergessen – geradezu überwältigenden Zuspruchs. Aus jüngster Zeit sind mir drei Gesamteinspielungen bekannt: Jeanne Golan für Steinway & Sons, und in diesem Jahr sowohl Moritz Ernst mit seiner hochambitioniert exquisiten Dramaturgie, die das Ullmann’sche Siebengestirn für das erlesene Berliner Connaisseur-Label EDA ausnahmsweise entgegen der Chronologie mit fünf erhaltenen Sonaten des gleichaltrigen Norbert von Hannenheim (1898-1945) in Wechselwirkung treten lässt, sowie jetzt Christophe Sirodeau für BIS. Jeanne Golan lieferte als Appendix das nachgelassene ‚Totentanz’-Menuett aus der 5. Sonate, und Sirodeau bietet uns die früher (1933-34) entstandenen Variationen und Doppelfuge über Arnold Schönbergs aphoristisches Klavierstück op. 19 Nr. 4 (ein sehr fesselndes und ambitioniertes Werk, dessen Charakter in der von Ullmann stammenden Orchesterfassung noch entschiedener zum Ausdruck kommt).

Ullmanns erste vier Klaviersonaten sind 1936-41 entstanden, die letzten drei 1943-44 im Lager Theresienstadt, bevor er nach Auschwitz deportiert und vergast wurde. Die zutiefst ergreifende Geschichte des Komponisten und insbesondere seine unerschütterlich lebensbejahendende Haltung in der letzten Zeit sind ein Kapitel, das ich jedem Interessierten zum Studium empfehlen möchte – Literatur gibt es dazu mittlerweile schon reichlich, und auch Sirodeaus eigener Text im Booklet vorliegender Doppel-CD ist sehr einfühlsam, engagiert und informativ geschrieben. Ullmann war zweifelsohne ein Könner von höchsten Graden und ein Originalgenie, von dem leider viel zu wenig Musik vorhanden ist, von dem wir uns vor allem noch viel mehr anspruchsvolle Orchestermusik erhofft hätten, die man ihn nicht mehr hat schreiben lassen. Es ist bezeichnend für ihn, dass er zwar bei Arnold Schönberg die Methode der Komposition mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen studierte, jedoch daraus hervorgehend ein primäres Interesse entwickelte, die strukturellen und auf engstem Raume klanglich-expressiven Errungenschaften der sogenannten Atonalität mit den Mitteln der weite Spannungsbögen ermöglichenden freien Tonalität zu verbinden, und dies in stilistisch noch weit ungebundenerer Weise als beispielsweise Alban Berg. So hören wir in seiner Musik viele Anklänge an andere große Musik der klassischen Moderne wie etwa den späten Leos Janácek, Alexander Scriabin, Béla Bartók oder auch die französischen Meister des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, an Schönbergs und Bergs zerklüftetes Idol Gustav Mahler, dazu selbstverständlich sowohl an unschuldige Volksweisen als an die ehernen Klassiker und Romantiker, und allenthalben begegnen uns spukhafte Walzer-, Menuetten-, Marsch-, Serenaden- und Fugentopoi – wobei gleichwohl all das auf unnachahmlich kapriziöse und zugleich existenziell packende Art zu Aspekten seines Eigentons anverwandelt worden ist. All das ist in Ullmanns Schaffen in unvorhersagbarer Weise verwoben, verknüpft, gegenübergestellt, und er bildet damit einen unverkrampft weltoffenen, die Tradition einbeziehenden Gegenpol zur kristallin puren Dodekaphonie Anton Weberns. So liegt es auch in der Natur der Sache, dass Ullmanns Musik tendenziell eine längere Entwicklung und Durchführung verträgt, da er eben nicht von vorneherein das gesamte Spektrum der zwölf Töne möglichst gleichwertig ausbreitet, sondern den Raum offenhält für das, was noch nicht (oder nur am Rande) erklungen ist und damit als tonale Station am Wege neu wirken kann.

Christophe Sirodeau ist ein sehr sensitiver und kultivierter Pianist, und zu Beginn war ich wirklich erstaunt, wie gut er sich intuitiv im freitonalen Raum orientiert. Er hat nicht das Vorwärtsdrängende und Überzeichnende wie Moritz Ernst, der auch den Text letztlich gewissenhafter verwirklicht, doch das zusammenhängende Hören der intervallischen Fortschreitungen mit ihren Melismen und Schroffheiten nimmt den Hörer suggestiver mit als bei Ernst oder Jeanne Golan. Leider musste ich jedoch feststellen, dass bei Sirodeau im Laufe der chronologischen Abfolge keine Steigerung eintritt, sondern eher ein schleichendes Ermatten, eine allmählich pauschalere Darbietung, was ja für fast alle Gesamteinspielungen bezeichnend ist. Da ist nun Moritz Ernsts unbeirrbare Passion besonders zu bewundern, wo durchgängig kein Nachlassen des Fokus, der gestaltenden Kraft festzustellen ist, was schließlich doch zu einem entschiedenen Votum für seine Aufnahme bei EDA führt, will der Leser wissen, was denn nun die empfehlenswerteste Aufnahme sei. Jeanne Golan kann es, was den spezifisch angemessenen Ausdruck betrifft, insgesamt weder mit Ernst noch mit Sirodeau aufnehmen, wenngleich auch ihre Gesamtaufnahme bei allen typisch pianistischen Pauschalitäten ihre Meriten und trefflichen Momente hat.

Was nun ist mit „Pauschalitäten“ gemeint, denn vor solchen ist auch Christophe Sirodeau bei aller Klasse und Ernsthaftigkeit keineswegs gefeit (und auch Moritz Ernsts Spiel unterliegt, in geringerem Maße, solch gebräuchlichen Konditionierungen)? Die eine Sache ist, dass, ähnlich wie beispielsweise ganz besonders bei Scriabin, die leisen Vortragsbezeichnungen nur teilweise adäquat ausgeführt werden, und oft herrscht mitten im geforderten piano schlichtes Fortespiel – das ist verständlich in Anbetracht der Schwierigkeit, aber es ist auch außer Zweifel, dass die wenigsten Pianisten sich genug darum kümmern, die Dimensionen von piano und pianissimo angemessen und in unendlichen Abstufungen zu beherrschen (und es ist ein Problem, von dem wahrlich nicht nur Pianisten betroffen sind). Schwerer wiegt die Unfähigkeit, eine unmerkliche, natürliche Flexibilität des Tempos einzubringen, die nicht nur auf die Änderungs-Befehle in der Partitur reagiert (was allerdings hier mehrfach ignoriert wird), sondern aus dem energetischen Fluss und der modulatorischen Steuerung heraus agiert. Auch wirkt es einfach nur wie ein stockender Ritt auf einem störrischen Esel, wenn vor der Takteins stereotyp eine quasi sich verhaspelnde Verzögerung eingebaut wird (eine interpretatorische Epidemie, zu deren Behandlung primär das Studium orientalischer Musizierkultur zu empfehlen ist). Ab und zu gerät es auch mal zu mechanisch gleichförmig, aber das ist keine zentrale Schwäche Sirodeaus. Doch vor allem in den späten Sonaten macht sich allmählich eine Neigung zu einem Cortot-haften Trunkenheits-Rubato breit, das nicht nur die metrische Spannkraft aushebelt, sondern auch die langfristigere Satzentwicklung über Gebühr vernebelt. Und besonders unerfreulich empfand ich, wenn tänzerische Grundtypen völlig verfehlt werden (was noch mehr für die Darstellung Jeanne Golans gilt), also so etwas wie der hier überhetzte, gespenstische Walzertypus im dritten Satz der 6. Sonate oder der gezierte Menuett-Charakter im 4. Satz der 7. Sonate. Erstaunlich übrigens, wie nahe die Ausdruckswelt Scriabins gerückt ist in diesem letzten Werk!

Nach so viel Kritik sei gesagt, dass es sich trotz allem um eine zyklische Aufführung von weit überdurchschnittlichem Niveau handelt, die auch klangtechnisch exzellent eingefangen ist, und die es wert ist, dass die Kollegen und alle Interessierten sich damit auseinandersetzen. Was wunderbar möglich aufgrund der bei Schott erschienenen, von Konrad Richter edierten, zweibändigen textkritischen Notenausgabe der sieben Sonaten (ED 8281 & ED 8282). Diese Musik ist zugleich so komplex und vielgestaltig, dass es sich dem Kundigen unbedingt empfiehlt, die Stücke nicht nur einfach anzuhören und damit für gegeben hinzunehmen, was sich inzwischen bereits als eine oftmals schon jetzt sich falsch formierende Tradition herauszubilden beginnt, sondern auch lesend zu studieren, wie Ullmann seine inneren Traumgebilde Gestalt werden ließ, was er wollte und ob das, was davon abweicht, eher instrumentalen Schwierigkeiten geschuldet ist, oder ästhetisch fragwürdigen Manierismen, oder ob es eine intelligente Lösung für das ist, was Gustav Mahler einst unübertrefflich so formulierte, dass in der Partitur alles stehe, nur das Wesentliche nicht.

Christoph Schlüren [11.09.2014]

Anzeige

Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Viktor Ullmann
1Klaviersonate Nr. 1 op. 10 (Für Prof. Franz Langer) 00:15:19
4Klaviersonate Nr. 2 op. 19 (Meinem verehrten Freunde Dr. Hans Büchenbacher) 00:11:30
7Klaviersonate Nr. 3 op. 26 (À Juliette Arányi) 00:15:49
10Klaviersonate Nr. 4 op. 38 (Für Alice Herz-Sommer) 00:17:02
CD/SACD 2
1Klaviersonate Nr. 5 op. 45 (Meiner lieben Frau Elisabeth in memoriam Theresienstadt) 00:16:49
6Klaviersonate Nr. 6 op. 49 (Gewidmet Herrn Ing. Julius Grünberger) 00:11:02
10Klaviersonate Nr. 7 (À mes enfants Max, Jean, Felice) 00:23:53
15Variationen, Phantasie und Doppelfuge über ein Thema von Arnold Schönberg op. 3a 00:11:09

Interpreten der Einspielung

Das könnte Sie auch interessieren

16.03.2022
»zur Besprechung«

Nicolaus Bruhns, Cantatas and Organ Works Vol. 1
Nicolaus Bruhns, Cantatas and Organ Works Vol. 1

12.08.2020
»zur Besprechung«

Johann Sebastian Bach, Concertos for Harpsichord and Strings Vol. 1
Johann Sebastian Bach, Concertos for Harpsichord and Strings Vol. 1

10.04.2020
»zur Besprechung«

Johann Sebastian Bach, St Matthew Passion BWV 244
Johann Sebastian Bach, St Matthew Passion BWV 244

18.02.2020
»zur Besprechung«

Ludwig van Beethoven, Symphony No. 9 in D major / BIS
Ludwig van Beethoven, Symphony No. 9 in D major / BIS

Anzeige

Klassik Heute - Ihr Klassik-Portal im Internet

Anzeige