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Besprechung CD

cpo 777 787-2

1 CD • 52min • 2012

13.02.2014

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 10

An Gesamteinspielungen der Sinfonien Anton Bruckners besteht wahrlich kein Mangel. Es spricht daher für Mario Venzago, dass er seinen eigenen Zyklus, der seit 2010 bei cpo erscheint und sehr weit gediehen ist – hiermit wird die 9. und letzte Sinfonie vorgelegt, es fehlen noch die zyklopischen Sinfonien Nr. 5 und 8 und die sogenannte „Studiensinfonie“ f-Moll – durchaus bescheiden mit einer Reflexion beginnen läßt, überschrieben mit „Der andere Bruckner - Warum eine neue Gesamtaufnahme? Bekenntnis eines ,Bruckner Dirigenten'“. Das Motto „Der andere Bruckner“ deutet hierbei schon an, dass Venzago seinem eigenen Anspruch nach nicht einfach subjektiv darlegt, wie er sich die Sache so vorstellt, sondern einen frischen und namentlich „historisch informierten“ Blick auf das monumentale sinfonische Korpus versucht.

Dass die Theorien und Ideologeme der Historisierenden Aufführungspraxis nun auch auf Bruckners Sinfonien übertragen werden, die doch eigentlich in einer mehr oder weniger kontinuierlichen und dabei im besten Sinne konventionellen Aufführungstradition stehen, war wohl nur eine Frage der Zeit. Sympathisch ist, dass Venzago in den persönlichen und ausführlichen Einführungstexten keineswegs so tut, als ob er gleichsam den Staub von den Werken wischen und somit eine Form der Authentizität beanspruchen würde; der Schweizer Dirigent entwirft sogar eine rein spekulative Programmatik für die Sinfonien von der Nullten bis zur Neunten, die auch gar nicht anders als persönlich verstanden werden soll.

Sieht man von den Erklärungen Venzagos ab und hin auf seine klingenden Deutungen, bietet sich ein komplexes Bild. Zwar interpretiert er, historisch nicht ganz zu Unrecht, gerade die frühe Sinfonik bis ungefähr zur 3. Sinfonie d-Moll vorwiegend aus dem musikgeschichtlichen Kontext Schuberts heraus und verwendet entsprechend reduzierte Besetzungen sowie einen schlankeren Musizierstil, der das seinerzeit nachweislich kleiner dimensionierte und enger mensurierte Instrumentarium reflektiert. Am ungewohntesten werden dem Hörer denn auch die ersten vier Sinfonien (einschließlich der „Nullten“) bis zur Dritten vorkommen, während die Vierte, die „Romantische“, flüssig musiziert wird, jedoch von einem Sinfonieorchester konventioneller Größe (dem Sinfonieorchester Basel), das Venzago glücklicherweise auch nicht plötzlich anachronistisch „rhetorisch“ artikulieren läßt. Es wäre denn auch eine ziemlich gewaltsame Weise der Interpretation gewesen, die spätromantischen Sinfonien etwa ab der Vierten gleichsam zu barockisieren. So ist Venzagos rationale, mäßigende, manchmal artikulatorisch etwas kurz angebundene Deutungsart wohl am ehesten derjenigen des mittleren Günter Wand, vielleicht auch der von Georg Solti in den 1980er und 1990er Jahre zu vergleichen – von Ausreißern wie dem wie im Zeitraffer rasenden Finale der Vierten einmal abgesehen.

Noch vor der Fünften und Achten erschien nun als vorzeitiger Abschluß die Neunte. Venzago hält auch hier sozusagen den frischen Blick durch: Er geht die Partitur sehr aufmerksam auf Möglichkeiten durch, das Geschehen allenthalben zu dynamisieren. Typisch sind etwa Crescendi auf langen Liegenoten; Bruckner hat sie nicht notiert, doch natürlich fallen solche Abweichungen unter den Anwendungsbereich künstlerischer Freiheit, und man kann zumindest argumentieren, dass sie Usus gewesen sein könnten. Außer Frage steht, dass es sich hierbei um Interpretationen handelt, die einer gewissen Ideologie folgen; warum nämlich muß jeder Liegeton belebt werden, kann nicht vielmehr auch eine gewisse erhabene Statik gewollt sein?

Auch die Tempi sind nur teilweise plausibel. Im Kopfsatz ist das schnellere Tempo des 3. Themas durch das notierte „Moderato“ gerechtfertigt, es ergibt sich freilich ein Schnitt, keine organische Vermittlung. Im abschließenden Adagio fallen jedoch recht willkürlich einige Episoden, etwa die h-Moll-Verarbeitung des Hauptthemas, durch die krassen Tempobrüche heraus; hier zeigt sich Venzago, übrigens ein glänzender Dirigier-Techniker, einfach als leidenschaftlicher Musiker, der seinen subjektiven Neigungen nachgibt. Ein ebenso interessanter wie diskussionswürdiger Fall ist auch das hektisch durcheilte Scherzo: Hier hat Ende der 1980er Jahre eine, zugegebenermaßen extreme Interpretation Bernsteins mit den Wiener Philharmonikern demonstriert, wie wirkungsvoll ein schweres, bedächtiges Tempo doch sein kann (DG 435 350-2).

Manchmal könnte man sich auch fragen, ob einige ans Groteske reichende Effekte die Modernität der Partitur nicht auch überstrapazieren, etwa die bizarren, insistierenden und damit wenig feierlichen Staccati zu Beginn der Schlußphase des Adagios. Venzago erreicht damit zwar eine bemerkenswerte Transparenz des Berner Symphonieorchesters, die aber letztlich auf Kosten der Geschlossenheit geht; es ist der hörbar guten Einstudierung zu verdanken, dass das Schweizer Orchester trotz der etwas spitz und farblos klingenden Streicher – hier hätte weniger Angst vor Vibrato einiges bewirken können – mit bemerkenswerter Fülle in Erscheinung tritt; besonders die Hörner- und Tubengruppe ist fabelhaft. So ist Venzagos Version der Neunten Bruckners, repräsentativ für den vor der Vollendung stehenden Zyklus, ebenso interessant wie widersprüchlich geraten: von bestechender analytischer Intelligenz, doch nicht frei von Übertreibungen. Jüngere Dirigenten können von Venzagos Deutungen viele Denkanstöße aufnehmen; es bleibt freilich zu hoffen, dass auch die klassische Bruckner-Konvention, für die Namen wie Giulini, Karajan, Chailly, Maazel und natürlich – als Sonderfall – Celibidache stehen, über den neuen Ansätzen nicht verloren geht.

Prof. Michael B. Weiß [13.02.2014]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Anton Bruckner
1Symphony No. 9 d minor WAB 109 (Dem lieben Gott)

Interpreten der Einspielung

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