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Besprechung CD

cpo 777 545-2

1 CD • 54min • 2009

14.03.2011

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität:
Klangqualität: 9
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 9

George Antheil war ein seltsamer Vogel. In jungen, genialischen Jahren zog er aus, die Welt das Fürchten zu lehren. Er schockierte das skandalverwöhnte Paris, wenn er – die geladene Automatik im Schulterholster – seine Klavierkompositionen in den Saal prügelte. Er behumste seine amerikanische Gönnerin mit immer neuen Versprechungen des ganz-ganz-großen Durchbruchs, arbeitete sich wie ein Schaufelradbagger von Erfolg zu Mißerfolg und wieder zurück, wechselte seinen Stil öfter als andere die Socken, strandete schließlich mit seiner ungarischen Ehefrau Böski wieder in der Heimat, verfaßte mit ihr eine Herz-Schmerz-Kolumne für unglücklich Liebende, erfand mit der Schauspielerin Hedy Lamarr eine funktionsfähige (und patentierte) Torpedosteuerung und hinterließ ein musikalisches Œuvre, in das just ein solcher Torpedo hineingefahren zu sein scheint: Vieler seiner Werke ließen sich nur nach vieler Mühe in spiel- und aufführbare Fassungen bringen, Vorhaben, Skizzen und bloße Denkblasen tanzen in seinen Listen, Briefen und Konzepten Ringelreihen, so dass sich bis heute keine wirklich zuverlässige Übersicht geben läßt.

Wie auch immer, er war in den vierziger und fünfziger Jahren in seiner Heimat ein vielgespielter Komponist. Die schärfsten Krallen gestutzt, die Fangzähne im Glas auf dem Nachtkästchen, hätte er sogar das Zeug gehabt, ein „Vater der amerikanischen Musik" zu werden, wenn ihn nicht sein insgesamt überdrehter Antrieb noch vor seinem 60. Geburtstag dahingerafft und so das Feld für andere geräumt hätte, die sich mit verhetzten Synkopen, schnulzigen Folklorismen oder billig-kitschigen Cowboyromanzen den Ehrenplatz eroberten. Antheils spätere Sinfonik vor allem und, wie uns dieser jetzt bei cpo erschienene Einakter The Brothers aus dem Jahre 1954 zumindest ahnen läßt, auch die Bühnenwerke, die noch weitestgehend der Sichtung harren – sie sprechen für eine bedeutende schöpferische Potenz, die nicht im Skurrilen und Provokanten genug hatte, sondern nach den Phasen der Häutung gleichsam zum wesensmäßigen Kern ihrer selbst vorstieß. Dieser Antheil rührt, ohne rührselig zu sein, reißt mit, ohne künstlich herumjazzen zu müssen, und versteht dabei ganz offensichtlich auch so viel von der Bühne, dass dramatische Kurzweil garantiert ist.

The Brothers bringt die ewige Kain-und-Abel-Geschichte in eine amerikanische Wohnküche der frühen fünfziger Jahre und gibt dem Brudermord einen dementsprechend aktuellen Hintergrund. Ken lebt, seit er aus dem Krieg zurückkam, im Hause seines Bruders Abe, der, als Ken nach Europa mußte, dessen Verlobte Mary heiratete. In dem Motelzimmer, wo die beiden ihre Hochzeitsnacht verbrachten, explodierte ein Gasofen, wodurch die junge Frau erblindete. – Die Dreierkonstellation, um die die konzentrierte Handlung kreist, wird noch brisanter, da Ken, seit seiner Kindheit kein Freund körperlicher Schmerzen, während seiner Kriegsgefangenschaft dem Feind beim Verhör mitgefangener Kameraden geholfen hat. Zwei von ihnen, Jim und Ron, sind hinter ihm her, um sich für die Folter der „Interviews" zu rächen. Die blinde Mary hat inzwischen Braille gelernt und liest, während die Tragödie ihren Lauf nimmt, immer wieder in ihrer großen Blinden-Bibel, und natürlich beginnt sie „vorn", bei „Kain und Abel". Um ihr Augenlicht gebracht, „sieht" sie die aufziehende Gefahr viel deutlicher als ihr Ehemann Abe: dass nämlich Ken inzwischen wahnsinnig geworden ist und nur noch mühsam den schönen Familienschein aufrecht erhalten kann. Katalysatoren sind die beiden Ex-Soldaten, die ihren ehemaligen Peiniger endlich aufspüren – im allgemeinen Tumult ersticht Ken seinen Bruder, bevor Jim und Ron eingreifen und ihn dingfest machen können.

George Antheil hat die Lichtverhältnisse und den Bühnenaufbau so genau definiert, dass es leichtfällt, sich beim Hören ein Bild von dem Geschehen zu machen, das in drei Szenen und anzunehmenden 24 Stunden – vom frühen Morgen bis zum frühen Morgen – zum Tod des einen und dem völligen Irrsinn des anderen Bruders führt. Musikalisch geschieht das erstaunlich unaufgeregt und dennoch leidenschaftlich, mit einfachen und doch sehr präzis differenzierenden Mitteln. Die Liebesgeständnisse, in denen Mary und Abe über ihr Glück reflektieren; die unterschwellig immer bedrohlichere Haltung Kens, der, wie wir erfahren, sich seiner Schwägerin mindestens einmal zu sehr genähert hat; der erst ruppige, dann verständnisvolle Ton der beiden Soldaten; die quasi hymnisch herausgehobenen Bibelrezitationen – alles wirkt selbstverständlich und so ungezwungen, dass selbst der schräg in die erste Szene hineinhupende Bus, der Ken und Abe zur Fabrik bringen wird, seinen prosaischen Realismus verliert, um wie eine dramaturgische Dissonanz die befremdlich-knirschende Pseudofröhlichkeit am Frühstückstisch auszuhebeln.

Besetzung und Ausführung lassen kaum einen Wunsch offen. Anfangs weiß man zwar noch nicht so recht, wie sich der baritonale Ken (William Dazeley) entwickeln wird, aber das liegt in der Natur seiner „kaputten" Persönlichkeit begründet und ist demnach gewollt: Nach und nach erkennt man dann, welche Bitterkeit und Verschlagenheit in ihm lauern, der Marys Träume peinigt und vor dem Ende der Ereignisse noch einmal versuchen wird, sich (auch musikalisch) in Abes Gestalt an ihr zu vergehen. Rebecca Nelsen ist über weite Strecken eine gut gewählte, vor allem lyrisch überzeugende Mary, Ray M. Wade ein smarter, leicht naiv getönter Abe, dem familiäre Erwägungen („er ist mein Bruder") das geistige Augenlicht nehmen; und auch die beiden Rache-Engel (E. Mark Murphy als Jim, Piotr Prochera als Ron) gehen mit großem stimmlichen Engagement ihrem robusten Handwerk nach. Vorzüglich zeichnen die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane die klanglichen Bilder, denen hoffentlich bald weitere Bühnenwerke Antheils folgen werden.

Rasmus van Rijn [14.03.2011]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
George Antheil
1The Brothers (A One Act Opera based on the biblical story of Cain an Abel)

Interpreten der Einspielung

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