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Besprechung CD/SACD

OehmsClassics OC 629

1 CD/SACD • 70min • 2007

27.08.2008

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 2
Klangqualität:
Klangqualität: 6
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 4

Auch beim dritten Anlauf wird Simone Young den revolutionären Kühnheiten der Erstfassung einer Bruckner-Sinfonie nicht gerecht: Diesmal ist es die „Romantische“, die sie in zähen Tempi als Klangbrei anrührt und so zugrunde richtet. Liest man Michael Lewins klugen Booklet-Text, dann findet man die Information, dass der von Bruckner überwachte Erstdruck 1888 als Metronomangabe für den Kopfsatz (und damit das Hauptzeitmaß der Sinfonie) Halbe = 72 angibt. Die Tempi waren durch die vier Fassungen hindurch immer langsamer bezeichnet worden; in der Letztfassung soll diese Metronom-Angabe dem Tempo „ruhig bewegt, nur nicht schnell, allegro molto moderato“ entsprechen. In der Urfassung ist der Kopfsatz jedoch mit „Allegro“ in Halben bezeichnet! Simone Young nimmt dieses Allegro mit einem Durchschnitt von etwa Halbe = 54. Selbst bei Halbe = 72 dürfte der Kopfsatz mit 630 Takten Länge allenfalls etwa 17 Minuten dauern (das wäre dann aber noch nicht Allegro). In dieser Aufnahme dauert er 20 Minuten. Wie sich erst ein „allegro molto moderato“ bei ihr anhören würde, wagt man sich nicht vorzustellen.

Der Gesamteindruck vom Kopfsatz ist ein zerrissener, die Tempi schwanken beträchtlich: Das Anfangstempo (Hauptthema und Gesangsperiode) liegt im Adagio-Bereich; erst das dritte Thema bekommt Fluß, ist aber erheblich schneller. Auch die Coda treibt voran; der Satz endet ein Drittel schneller, als er begann – undenkbar für Bruckner, der im alten Tactus-Prinzip der Wiener Klassik verhaftet war! Das Anfangstempo des zweiten Satzes ist flüssig, doch dann tappt Simone Young in Takt 56 (Tr. 2, 2’53) in die Adagio-Falle und nimmt den Teil etwas langsamer. Bruckner hingegen hatte in einem erhaltenen Brief an den Berliner Kritiker Tappert auf einem Notenbeilageblatt für dieses Adagio ausdrücklich verlangt: „Die Achtel wie zuvor die Viertel“. Erst recht versagt die Dirigentin dann in Takt 191 (Tr. 2, 13’43), wo Bruckner plötzlich wieder das Anfangstempo verlangt („Andante quasi allegretto“), wodurch natürlich das Tempo verdoppelt werden müßte. In Takt 199 (Tr. 2, 14’40), zu Beginn der großen Hauptthemen-Steigerung, ist das Tempo nun aber ein Drittel langsamer als zu Beginn, wodurch sich zeigt, daß das Anfangstempo insgesamt zu rasch gewählt war. Das Finale schließlich beginnt endlich einmal im richtigen Allegro-Tempo, doch stellt sich bei der Wiederkehr des berühmten Hornrufs vom Anfang (Tr. 4, 0’15) kein Wiedererkennen beim Hörer ein, da zu Beginn des Kopfsatzes das Tempo viel langsamer war. Bei Takt 29, dem Eintritt des Unisono-Themas, schreibt Bruckner nicht „viel langsamer“ (Tr. 4, 0’40), doch Simone Young tritt gewaltig in die Bremsen. Am Ende der ersten Themengruppe gibt sich Bruckner ab Takt 77 Mühe, in der Baßfigur die Begleitung des Gesangsthemas vorzubereiten (Tr. 4, 2’09). Diesen Zusammenhang zerstört Simone Young, indem sie das Gesangsthema erheblich langsamer nimmt (Tr. 4, 2’49), obwohl Bruckner keinen Tempowechsel angegeben hat. Auch das dritte Thema (Tr. 4, 4’39) ist langsam. Frau Youngs Eingriffe zerschlagen die Architektur, denn sie isoliert das Anfangsthema durch ein rasches Tempo, das, lange aufgegeben, erst wieder in der Durchführung auftritt (Tr. 4, 7’37), aber wiederum bald wieder aufgegeben wird. Die Form der Sinfonie fällt durch diese Willkür völlig auseinander.

Das andere große Manko der Aufführung ist das permanente Sostenuto-Spiel insbesondere der Streicher. Bruckners polyphone Texturen und zum Teil sehr komplexe Überlagerungen verschiedener Melodien und Rhythmen kommen dadurch kaum heraus. Sehr oft klingen an Stellen, an denen bestimmte Instrumente herauskommen sollen (Bruckner schreibt dort oft „hervortretend“), alle Stimmen gleich. Alles wirkt wie mit Sirup verklebt. Der recht farbarme Klang und die hinsichtlich der Kontrapunktik unsensibel anmutende Abmischung unterstützen diesen Eindruck noch. Die Musik klingt wie aufgeblasen, jede Note wirkt gewichtiger, als ihr eigentlich zukäme. Daniel Harding nannte das jüngst in einem Interview kritisch den „typischen Bruckner-Modus“. Diese Musizierhaltung will Bruckners radikale Frühfassungen aus der Sicht des Monumental-Sakralen domestizieren, ihn auf dem würdevollen Podest halten, das manche Dirigenten seit Furtwängler errichten. Fans, die Bruckner in Art eines „Wagnerschem Weihe-Wahns“ verfallen sind, werden diese CD lieben. Wer hingegen in Bruckners Musik dem Menschen seiner Zeit begegnen möchte, wird von Simone Youngs Bruckner-Sicht enttäuscht sein.

Dr. Benjamin G. Cohrs [27.08.2008]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Anton Bruckner
1Symphony No. 4 E flat major WAB 104 (Romantic)

Interpreten der Einspielung

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