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Besprechung CD/SACD

hänssler CLASSIC 98.274

2 CD/SACD • 1h 47min • 2005

04.12.2006

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

Eigentlich ist mir der Interpretationsvergleich, wenn er nicht der Darstellung diskographischer Großwetterlagen dient, eine recht fragwürdige Vorgehensweise – insofern zwischen dem Rezensenten und dem Objekt seiner Rezension an die Stelle des unmittelbaren Eindrucks und seiner Schilderung ein Netz von Bezugspunkten gespannt wird, in dem man sich fangen kann, bevor man Gefahr läuft, eine wirklich persönliche Meinung zu äußern.

Doch auch ein entschiedener Gegner ist nicht unbedingt gegen die Versuchung gefeit: Dann etwa, wenn zwei würdige weißhaarige Herren desselben Alters, geboren in demselben Lande, aufgewachsen in denselben Traditionen, von etwa gleichem Renommee und im Laufe ihrer langen Karriere mit dem Namen Johann Sebastian Bach auf besondere Weise verbunden – wenn diese beiden Herren, die zu allem Überfluß auch noch fast denselben Vornamen haben, binnen einer rechten kurzen Frist von 14 Monaten ein und dasselbe Großwerk des deutschen Barock im Studio realisieren, dann ist es ja praktisch unmöglich, der Herausforderung zu widerstehen. Helmuth Rilling, im weiteren Verlauf HR geheißen, und Helmut Müller-Brühl (HMB), beide Jahrgang 1933, präsentieren sich bei hänssler classic respektive Naxos mit zwei Lesarten der Bachschen h-Moll-Messe, deren äußere und äußerliche Gemeinsamkeiten auffallend, deren innere Differenzen jedoch so eklatant sind, daß es sich ausnahmsweise lohnt, das Aufeinandertreffen dieser Weltbilder etwas näher in Augenschein zu nehmen.

Zunächst: Vorzügliche, den Aufgaben entsprechende Solisten hier wie dort – bei HMB die vielleicht ein wenig jünger klingende Riege, bei HR, vermutlich in Hinblick auf die Gesamtkonzeption, ein eher bodenständiges, „irdischeres” Team; der Dresdner Kammerchor bei HMB und die Gächinger Kantorei bei HR gegeneinander ausspielen zu wollen, wäre ebenso ungerechtfertigt wie die Frage, ob das Stuttgarter Bach-Collegium historisch informierter sei als das Kölner Kammerorchester. Aufnahmetechnisch höre ich ein leichtes Plus bei Naxos, da die chorischen Spitzentöne der neueren Hänssler-Aufnahme ganz gelegentlich ins Schrille entgleiten. Das objektivste aller objektiven Kriterien schließlich, die Gesamtspielzeit, differiert bei 1 h 46'44 (HR) zu 1h 48'07 um einen Betrag, den wir getrost unterschlagen können.

Die Gründe für die so völlig konträren Auslegungen müßten also eher dort zu vermuten sein, wo selbst in einer Messe der Teufel sitzt: im Detail. Allein, auch hier kommen wir nicht weiter. Es gibt bei HR einzelne Abschnitte, die exakt dieselbe Dauer haben wie bei HMB - die Altarie Qui sedes ist in beiden Fällen tatsächlich 4'45 lang; in anderen kommt die Stuttgarter Version gegenüber der Kölner Lesart sogar deutlich zügiger vom Fleck (für das Agnus Die benötigen HMB und seine Altistin eine derbe Minute mehr). An der jeweils sehr persönlich definierten Klangschönheit und Eindringlichkeit kann’s auch nicht liegen, daß uns zwei gänzlich verschiedene Kreationen entgegentreten: Qui tollis peccata mundi etwa oder auch das Quoniam tu solus sanctus sind nicht zuletzt dank der solistischen Leistungen bei HR nur einige der feinsten Andachtsmomente, indessen die aufrauschenden „Trompetensachen” in D die entsprechenden Stellen bei HMB, der auch nicht eben zimperlich vorgeht, mit ihrer schieren Urgewalt zerblasen könnten.

Je gründlicher ich mich mit den beiden Varianten befasse, desto deutlicher finde ich die Wurzel aller Diskrepanzen in der grundlegenden Einstellung dem gewaltigen Werk und seinen Bedeutungsebenen gegenüber. Auf der einen Seite haben wir mit HR einen Dirigenten, für den die h-Moll-Messe anscheinend in erster Linie das große kompositorische Denkspiel ist, die kunstvolle Kombination aller erdenklichen satztechnischen Fertigkeiten, die Montage der Einzelheiten – Fuge, Konzertsatz, Arie usw. – zum Zwecke der Eigenwerbung. Zu dieser Betrachtungsweise paßt denn auch der wissenschaftlich ungemein korrekte Einführungstext samt der redaktionellen Unbedachtheit, sämtliche Nummern der Partitur beizubehalten, ohne den CD-Wechsel nach dem Gloria zu bedenken: Infolgedessen muß sich der Benutzer für die 15 Tracks der zweiten Scheibe eine Konkordanz anlegen, damit der vom Symbolum nicenum an die Nrn. 13 bis 27 den Ziffern im Display problemlos zuordnen kann.

Der andere – HMB – ist nicht nur Geiger und Dirigent, sondern auch studierter Theologe, und nähert sich der Messe in h-moll, als sei sie nicht erst nach und nach zu verschiedenen Anlässen erstellt worden, sondern trotz ihrer nach irdischem Maße langjährigen Genesis eben eine große, ja ungeachtet ihrer Dimensionen sogar praktisch anwendbare Liturgie, in der es zunächst und vor allem um das „Lob Gottes” und um ein (überkonfessionelles) „Glaubensbekenntnis” geht, bevor dann in zweiter Linie die komponierte Werbeschrift der Teile I und II entstand und in einem dritten Schritt die Komplettierung der Messe geschah.

Daraus folgt, daß ich tatsächlich ein Kyrie-Christe-Kyrie höre, wenngleich es aus drei massiven, in sich schon enorm komplexen Teilen besteht; daß die nachfolgenden neun ganz eigenständig ausgearbeiteten Abschnitte ein „Ehre sei Gott” ergeben, daß dann ein zwar untergliedertes, zugleich aber ein Credo zu hören ist ... Und daraus ergibt sich in der Tat eine ganz andere Art des Musizierens, die – ohne im anämischen Sinne „abgehoben” zu sein – den einzelnen Architekturen gewissermaßen ihren Platz im Bauplan des Schöpfers einräumt und demnach nie zur Reihung herabsinkt, sondern den Hörer, mag er nun ein „Glaubender” oder nur „Genießender” sein, auf eine nie langatmig-langweilige Reise mitnimmt, in der Ewigkeit und lebendige Zeit einander gerade nicht ausschließen.

Immer wieder ist, seit Menschen sich für Bach interessierten, von der universellen Sicht seines Schaffens, insonderheit der großen Formate, die Rede. Darunter kann man sich gewiß vieles vorstellen, darüber kann man lang und breit in philosophischen, musikologischen, musiksoziologischen, von mir aus auch psychologischen Termini spekulieren. Das ganz praktische Nebeneinander der beiden Aufnahmen, die zu vergleichen ich mir hier einmal nicht verkneifen konnte, sagt mehr als alle Worte und Theorien: Es mag unbestreitbar viele gute und historische Gründe dafür geben, die Messe h-Moll von Johann Sebastian Bach in der Weise auszuführen, wie das auf der neuen Veröffentlichung von hänssler classic geschieht; wenn ich aber die Musik so hören will, daß sie mich als umfassend-universelles Ereignis fesselt, greife ich zu der andern Einspielung.

Rasmus van Rijn [04.12.2006]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Johann Sebastian Bach
1Messe h-Moll BWV 232 für Soli, Chor und Orchester

Interpreten der Einspielung

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