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Besprechung CD

hänssler CLASSIC 98.227

1 CD • 77min • 2005

24.10.2005

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 6
Klangqualität:
Klangqualität: 8
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 7

Helmuth Rilling hat schon oft Vervollständigungen unvollendeter Werke in Auftrag gegeben – darunter besonders spektakulär die neue Ergänzung von Mozarts Requiem durch den amerikanischen Pianisten, Komponisten und Musikwissenschaftler Robert Levin und – wenn auch nicht sonderlich überzeugend – die Auskomposition des verlorenen dritten Teils von Schuberts Lazarus durch Edison Denisov. Dabei funktioniert das Zusammenspiel von Verlagen, Plattenfirmen und Medien so gut, daß die Musikkritik kaum kritisch hinterfragt. Die Kritiker waren auch zurückhaltend, als im Herbst letzten Jahres die von Rillings Bach-Akademie Stuttgart und der New Yorker Carnegie Hall gemeinsam bei Levin in Auftrag gegebene, neue Komplettierung von Mozarts c-Moll-Messe uraufgeführt wurde. Bald ist Mozart-Gedenkjahr, und da feiert man natürlich jede Sensation: “Mozarts DNA entschlüsselt”, jubelte die “FAZ”; die meisten deutschen Medien stimmten mit ein, und nur “Die Welt” befand, diese Vervollständigung habe “auch ein bisschen was von Frankenstein”.

Eine Untersuchung der bei Carus veröffentlichten Partitur und des nun bei Hänssler Classics auf CD erschienenen Rundfunk-Mitschnitts des SWR vom 19. und 20. März 2005 aus der Stuttgarter Liederhalle bestätigt letzteren Eindruck: Zwar basieren weitere Teile auf Umtextierungen und Bearbeitungen originaler Vorlagen Mozarts; auch wurde die Entdeckung bislang unbekannter Skizzen zu dem Werk durch Levin behauptet, doch hat Levin für die fehlenden Teile des Credo und das ganz fehlende Agnus Dei immerhin gut 500 Takte selbst komponiert, und wissenschaftlich ist sein Vorgehen in Manchem fragwürdig.

Was ist nun neu an dieser Version? Schon die notwendigen Ergänzungen in den vorhandenen, unfertig instrumentierten ersten beiden Sätzen des Credo durch Levin (Tr. 9 und 10) wirken weitaus weniger glücklich als in der Ausgabe von Richard Maunder, der 1990 als erster die bei Mozart und in allen anderen gängigen Ausgaben fehlenden Pauken, Trompeten und Posaunen im Credo ergänzt hat (hörbar erstmals in der Einspielung unter Christopher Hogwood bei Decca Florilegium). In Parodie und Bearbeitung verwendet Levin insbesondere die Sopran-Arie Tra l`oscure ombre funeste, die Mozart 1785 bei seiner Umarbeitung von Kyrie und Gloria der Messe zur Kantate Davide Penitente eingefügt hat, möglicherweise aufgrund früherer Entwürfe – allerdings von Levin verändert und auseinandergerissen: Den Anfang der Arie, um eine von Levin hinzukomponierte Chor-Stelle erweitert, bildet das Agnus Dei (Track 18, bis ca. 3’03); deren eigentlicher zweiter Teil, nach G-Dur und für Tenor transponiert, steht jedoch lange davor (Et in Spiritum Sanctum, Tr. 13, 3’53). Die angeblich bedeutenden Skizzenfunde entpuppen sich als zwei kurze, untextierte Fugato-Skizzen von 12 (zu Beginn des Crucifixus, Tr. 11, bis 0’27) beziehungsweise 13 Takten (Et unam sanctam, Tr. 14, 1’24 bis 1’50). Außerdem hat Levin die in der Forschung bereits bekannte Skizze zum Dona nobis pacem (Tr. 19, bis 0’16) als Schlußfuge auskomponiert. Alles in allem also eine Minute originaler Mozart-Skizzen und sieben Minuten einer parodierten Arie neben gut zwölf Minuten Komposition von Levin im Stile Mozarts. Freilich – daß er die beiden “neuen” Skizzen in einem Band der Mozart-Gesamtausgabe entdeckt hat, bekannte Levin erst jüngst in einem Interview. In der Partitur-Ausgabe steht über die Provenienz kein Wort, und sein Rechenschaftsbericht, den man von einem seriösen Forscher eigentlich erwarten dürfte, war auch gut ein Jahr nach der Uraufführung noch nicht erschienen.

Manche der Textierungen Levins sind ausgesprochen untypisch – beispielsweise die Crucifixus-Skizze und das nur mit viel Mühe umtextierte Agnus Dei zu einer Musik, die sich übrigens weit überzeugender als Crucifixus deuten und textieren ließe (wie gezeigt in der 2002 in Wien uraufgeführten Vervollständigung von Thomas Schmögner und Gottfried Lehrer). Die ausgearbeiteten Fugen wirken handwerklich gekonnt – insbesondere die auf dem Gegenthema des Kyrie beruhende Et vitam venturi-Fuge –, aber namentlich die Schlußfuge auch etwas fade: Ein merkwürdig schematisches Ganzes, mit ausgiebigen Orgelpunkten, die eher an Brahms als an Mozart erinnern, und überdies mit Zwischenspielen, die von den Gesangssolisten übernommen werden, was ziemlich stilfremd wirkt. So bekommt man den Eindruck, Levin habe zwar aus formalen Gründen eine Vervollständigung unternommen, doch ohne dem Werk selbst wirklich Entscheidendes hinzuzufügen. Er argumentiert selbst, der durch den Fragment-Charakter ungewollte Sprung vom Incarnatus zum Sanctus sei so, “als ob man aus der Durchführung im ersten Satz eines Klavierkonzertes direkt in das Finale gelangt” (Levin im Interview), doch eine Messe ist kein Klavierkonzert, und mit der schablonenhaften Form-Ästhetik der Spätromantik sollte man ihr besser nicht beikommen. Viele Komponisten sind ohnehin mit dem Messe-Text frei umgegangen; zum Beispiel stört uns die Form einer nur aus Kyrie und Gloria bestehenden “Missa Brevis” kaum. Man könnte sogar einen Sinn darin entdecken, dass Mozart, der 1784 Freimaurer wurde, ausgerechnet auf die Auskomponierung des Bekenntnisses zur Macht der katholischen Kirche verzichtet hat, wie es am Ende des Credo steht – abgesehen davon, daß seine Bearbeitung Davide Penitente (1785) ganz bestimmt der Versuch war, ein Werk in eine definitive Endgestalt zu bringen, das sonst verloren gewesen wäre. Denn die Enstehung des Messe-Torsos 1783 fällt zeitlich zusammen mit jenen josephinischen Reformen und kirchenpolitischen Dekreten, die Aufführungen einer konzertierenden lateinischen Kirchenmusik bis mindestens 1790 (Tod Josephs I.) in Österreich praktisch unmöglich machten.

Das von Levin vorgelegte Gesamtergebnis ist zwangsläufig so inkongruent wie jene von Solisten improvisierten Kadenzen, die neben einer mehr oder weniger gründlichen Kenntnis des jeweiligen Originalstils auch viele persönliche Eigenarten erkennen lassen. Ähnliches gilt für die Ersteinspielung: Die Gächinger Kantorei hat zwar viel Aufführungserfahrung mit dem Werk an sich; es spricht für ihre Qualität, daß die für sie neuen Stellen der Levin-Ergänzung sich bruchlos ins Ganze einfügen. Deklamation und Intonation sind – wie von diesem erfahrenen Ensemble zu erwarten – tadellos. Doch dem gegenüber steht eine vergleichsweise begrenzte Differenzierung der Lautstärkegrade. Dirigent Helmuth Rilling nimmt den Ensemble-Klang kaum zum “piano dolce” zurück; dies gelingt allenfalls in den solistischen Passagen. Sowie Streicher oder gar Bläser hinzukommen, dickt der Klang unvorteilhaft auf. Die lautesten Passagen hingegen klingen eher grell als rund; die Farben wirken insgesamt blaß – auch im Chor, der selten das Timbre ändert. Die Tempi drängen oft unangemessen voran – so zum Beispiel der ausgesprochen instinktlos drängelnde Beginn des Christe eleison, wo man vom Affekt eher ein leichtes Verzögern erwarten würde. Rilling läßt den “Heiligen Geist” in Gestalt der Violinen ausgesprochen hurtig vom Himmel fallen... Das rasche Tempo nimmt dem ersten Satz viel von seiner sonst üblichen Strenge und Wucht; ähnliches gilt für die an sich ungeheuerlich komponierte Kreuzigungs-Szene im Qui tollis, die hier recht geschäftig vorbeizieht, für den allzusehr auf Effekt gebürsteten, raschen Credo-Beginn, der gar nicht wie vorgeschrieben Allegro maestoso wirkt, und die ergänzte Dona nobis-Fuge, die in gemessenerem Tempo überzeugender wirken könnte.

Vorzüglich agiert das Solo-Quartett, wobei man Diana Damrau für ihr herrliches Incarnatus besonders herausstellen muß – vielleicht der überhaupt am anrührendsten musizierte Teil dieser CD. Nur Juliane Banse (Sopran II) mit ihrem etwas dunkleren, volleren Timbre paßt nicht ganz dazu. Rilling geht mit sorgfältiger Routine ans Werk. Der Preis dafür ist stets eine gewisse Kühle und Reserviertheit – wenn er nicht gerade eine seiner Sternstunden hat. Historisch informierte Aufführungspraxis waltet allenfalls eingeschränkt. Dem Klang nach wird auf neuen Instrumenten im heutigen Kammerton “quasi-barock” musiziert; auf Vibrato wird nicht generell verzichtet, was am Störendsten beim oft nahezu opernhaft anmutenden Chor und in der wimmerigen Solo-Flöte wirkt (Incarnatus; Agnus Dei). Artikulation und Phrasierung wirken nicht bis ins Letzte ausdifferenziert; viele figurierten Passagen laufen so akkurat gleichförmig wie eine Nähmaschine. Der Gesamtklang ist natürlich und direkt abgenommen; auch die Balance zwischen Chor, Solisten und Orchester ist überzeugend, doch die Interpretation wirkt glatt und nicht sonderlich aufregend. Vom Torso des Werkes selbst gibt es Einspielungen mit weitaus größeren Kontrasten und beherzteren Affekten, insbesondere die von Ferenc Fricsay, Christopher Hogwood, Nikolaus Harnoncourt und Peter Neumann. Man wünscht Levins Komplettierung nun bald eine Einspielung in konsequent historischer Aufführungspraxis, musiziert mit mehr Sinn für Farbe und Beseeltheit.

Dr. Benjamin G. Cohrs [24.10.2005]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Wolfgang Amadeus Mozart
1Messe c-Moll KV 417a KV 427 (Große c-Moll-Messe)

Interpreten der Einspielung

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