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Besprechung CD

hr-musik.de hrmk015-03

1 CD • 71min • 2001, 2002

08.12.2003

Künstlerische Qualität:
Künstlerische Qualität: 8
Klangqualität:
Klangqualität: 7
Gesamteindruck:
Gesamteindruck: 8

Einen etwas zwiespältigen Eindruck hinterläßt diese Frankfurter Neuproduktion später Haydn-Sinfonien. Zwar haben Hugh Wolff und sein HR-Orchester inzwischen auch die Zeichen der Zeit erkannt und wenden sich nun der historisch informierten Aufführungspraxis hinzu. So ist es durchaus erfreulich, daß hier die Streicher ihr Vibrato sehr stark reduzieren und man sogar Fritz Walther hinzugezogen hat, der zur Baßstimme auf dem Cembalo das Continuo improvisiert: ein besonderer Pluspunkt und eine delikate Farbe, auf die heute ? sogar bei Roger Norrington! ? leider fast immer verzichtet wird. Ein weiterer Pluspunkt ist die Orchesteraufstellung mit gegenüber sitzenden Geigengruppen. Allein: die Balance stimmt in sich dennoch nicht. Zwar scheint die Größe des Orchesters dem Klangeindruck nach angemessen gewählt (wir wissen, daß Haydn zur Uraufführung der Sinfonie Nr. 92 in London beispielsweise ein Orchester von etwa 40 Musikern hatte, also eine Streicherbesetzung mit etwa je 7 bis 8 Violinen), wenn auch diese Information im Booklet nicht mitgegeben wurde. Andererseits sind vor allem die Holzbläser in den Tutti mitunter geradezu absurd laut.

Das mag zum einen an den Instrumenten selbst liegen: Blech-Querflöten, Oboen und Fagotte heutiger Standardbauweise sind um etwa ein Drittel stärker als zu Haydns Zeiten, wodurch zu den hier beteiligten, eng mensurierten Naturhörnern und -Trompeten durchaus ein Ungleichgewicht entsteht. Zum anderen kann es doch nicht angehen, daß die Flöte in den Tutti mitunter deutlicher zu vernehmen ist als beide Unisono spielende, aber kaum zu hörende Geigengruppen, so zum Beispiel in Tr. 1 , 4Õ40 (Takt 110 ff.) ? soweit dies nicht auf das Konto der Tontechnik geht. Aber auch das mechanische Vibrato, das auf der Flöte zu Haydns Zeiten überaupt nicht gebräuchlich war, trägt dazu bei. Das hört man hier besonders in Passagen, in denen Haydn die Flöte zur Verstärkung der Violinen heranzog: Die (ursprünglich hölzerne) Flöte sollte sollchen Stellen etwas mehr Wärme und Farbe verleihen und mit den Violinen verschmelzen, anstatt mit starkem Vibrato herauszustechen.

Hugh Wolff, der von seinem Werdegang her ? abgesehen von 8 Jahren Leitung des St. LukeÕs Chamber Orchestra ? ohnehin nicht gerade als Protagonist historischer Aufführungspraxis bezeichnet werden kann, zeigt einige absonderliche, Haydns Stil nicht angemessene Eigenheiten. Dies betrifft zum einen die Tempoverhältnisse, die in der Wiener Klassik dem Tactus-Prinzip unterworfen waren: Haydn leitete ja nicht zuletzt die meisten Aufführungen vom Klavier oder Cembalo aus, gemeinsam mit dem Konzertmeister, und da waren verläßliche Temporelationen zwischen den Sätzen überlebensnotwendig. Bei Wolff sind sie keineswegs immer schlüssig oder nachvollziehbar ? zum Beispiel schon die zu langsame Einleitung zum Kopfsatz der Oxford-Sinfonie (Tr. 1) wo im Übergang zum Allegro doch sicher Achtel gleich Viertel gelten sollte und überdies die Viertel der Adagio-Einleitung den Vierteln des ebenfalls „Adagio“ bezeichneten zweiten Satzes entsprechen sollten. Zum zweiten scheint sich Wolff nicht ganz über die in zeitgenössischen Tonsatzlehren klar definierten Schwerewirkungen der Metrik im Klaren zu sein. Er bevorzugt kleine Gliederungen und manchmal ganz plumpes Markieren der „Eins“ des Taktes, auch da, wo die Musik in zwei- oder mehrtaktigen Metren schwingen sollte. Dadurch bekommen insbesondere die Adagio- und Andante-Sätze eine gewisse Larmoyanz, da man unterschwellig den Viertelpuls hört, anstelle des ganzen Taktes oder von Taktgruppen, wie man es bei Roger Norrington so unvergleichlich erleben kann: Sir Roger ist der einzige Dirigent, den ich je erlebt habe, der einen extrem langsamen Metronompuls von etwa 30 mit der Zuverlässigkeit einer alten Pendeluhr schlagen kann und beispielsweise den zweiten Satz der Oxford-Sinfonie mühelos in ganzen Takten dirigiert, ohne daß auch nur der geringste Eindruck von Hast entstünde. Der entsteht aber im Gegenteil durch die Viertelpulse von Wolff.

Einen ähnlichen Eindruck hinterläßt oft auch die Phrasierung: Das Orchester betont sehr oft Noten im historisch-musiktheoretischen Sinne völlig falsch ? zum Beispiel Abschlußnoten von Phrasen und Endtöne von Fall-Figuren, die auch dann nicht zu betonen wären, wenn sie auf einer „Eins“ stehen. In diesem Zusammenhang stören auch einige crescendi, die zwar effektvoll klingen mögen, aber die Kontrastwirkungen Haydns abschwächen ? etwa wenn ein eigentlich unvermittelt eintretendes forte nach einem piano durch crescendo vorbereitet wird. All dies sorgt dafür, daß man nach und nach beim Hören der CD etwas ermüdet, zumal auch der vielseitige musikalische Humor Haydns, den Harald Haslmayr in seiner vorzüglichen Monographie (Musik-Portraits, Wien 1999) so anschaulich beschreibt, nicht immer zum Ausdruck kommt.

Auch der Booklet-Text laviert ein wenig zwischen dem redlichen Bemühen, den Hörern heute Vergessenes anschaulich zu erklären, und der dazu konträren, etwas selbstverliebt wirkenden musikologischen Begrifflichkeit. Überdies sind die vierseitigen Selbstäußerungen von Hugh Wolff zu Haydn aus dem originalen Englisch recht nachlässig und irreführend ins Deutsche übersetzt worden, und über manche Details der Aufführungspraxis hätte ich auch noch mehr erfahren (angesichts mancher Eigenmächtigkeiten beispielsweise zum verwendeten Notentext).

Benjamin-G. Cohrs

8,7,8

Dr. Benjamin G. Cohrs [08.12.2003]

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Komponisten und Werke der Einspielung

Tr.Komponist/Werkhh:mm:ss
CD/SACD 1
Joseph Haydn
1Sinfonie Nr. 92 G-Dur Hob. I:92 (Oxford)
2Sinfonie Nr. 96 D-Dur Hob. I:96 (Le Miracle)
3Sinfonie Nr. 97 C-Dur Hob. I.97

Interpreten der Einspielung

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